Page - 210 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 210 -
Text of the Page - 210 -
Salonzug. Die Lokomotive hielt an. Eine fühlbare Bewegung ging durch die
Reihen der Wartenden, ich wußte noch immer nicht warum. Da erkannte ich
hinter der Spiegelscheibe des Waggons hoch aufgerichtet Kaiser Karl, den
letzten Kaiser von Österreich und seine schwarzgekleidete Gemahlin,
Kaiserin Zita. Ich schrak zusammen: der letzte Kaiser von Österreich, der
Erbe der habsburgischen Dynastie, die siebenhundert Jahre das Land regiert,
verließ sein Reich! Obwohl er die formelle Abdankung verweigert, hatte die
Republik ihm die Abreise unter allen Ehren gestattet oder sie vielmehr von
ihm erzwungen. Nun stand der hohe ernste Mann am Fenster und sah zum
letztenmal die Berge, die Häuser, die Menschen seines Landes. Es war ein
historischer Augenblick, den ich erlebte – und doppelt erschütternd für einen,
der in der Tradition des Kaiserreichs aufgewachsen war, der als erstes Lied in
der Schule das Kaiserlied gesungen, der später im militärischen Dienst diesem
Manne, der da in Zivilkleidung ernst und sinnend blickte, ›Gehorsam zu
Land, zu Wasser und in der Luft‹ geschworen. Ich hatte unzählige Male den
alten Kaiser gesehen in der heute längst legendär gewordenen Pracht der
großen Festlichkeiten, ich hatte ihn gesehen, wie er von der großen Treppe in
Schönbrunn, umringt von seiner Familie und den blitzenden Uniformen der
Generäle, die Huldigung der achtzigtausend Wiener Schulkinder
entgegennahm, die, auf dem weiten grünen Wiesenplan aufgestellt, mit ihren
dünnen Stimmen in rührendem Massenchor Haydns ›Gott erhalte‹ sangen. Ich
hatte ihn gesehen beim Hofball, bei den Théâtre Paré-Vorstellungen in
schimmernder Uniform und wieder im grünen Steirerhut in Ischl zur Jagd
fahrend, ich hatte ihn gesehen, gebeugten Hauptes fromm in der
Fronleichnamsprozession zur Stefanskirche schreitend – und an jenem
nebligen, nassen Wintertag den Katafalk, da man mitten im Kriege den
greisen Mann in der Kapuzinergruft zur letzten Ruhe bettete. ›Der Kaiser‹,
dieses Wort war für uns der Inbegriff aller Macht, allen Reichtums gewesen,
das Symbol von Österreichs Dauer, und man hatte von Kind an gelernt, diese
zwei Silben mit Ehrfurcht auszusprechen. Und nun sah ich seinen Erben, den
letzten Kaiser von Österreich, als Vertriebenen das Land verlassen. Die
ruhmreiche Reihe der Habsburger, die von Jahrhundert zu Jahrhundert sich
Reichsapfel und Krone von Hand zu Hand gereicht, sie war zu Ende in dieser
Minute. Alle um uns spürten Geschichte, Weltgeschichte in dem tragischen
Anblick. Die Gendarmen, die Polizisten, die Soldaten schienen verlegen und
sahen leicht beschämt zur Seite, weil sie nicht wußten, ob sie die alte
Ehrenbezeigung noch leisten dürften, die Frauen wagten nicht recht
aufzublicken, niemand sprach, und so hörte man plötzlich das leise
Schluchzen der alten Frau in Trauer, die von wer weiß wie weit gekommen
war, noch einmal ›ihren‹ Kaiser zu sehen. Schließlich gab der Zugführer das
Signal. Jeder schrak unwillkürlich auf, die unwiderrufliche Sekunde begann.
Die Lokomotive zog mit einem starken Ruck an, als müßte auch sie sich
210
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286