Page - 215 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Bahnen den ›Hamsterern‹ die Ware abzunehmen und den städtischen
Ernährungsämtern zuzuteilen. Die Hamsterer antworteten, indem sie nach
Wildwestart nächtliche Transporte organisierten oder die Aufsichtsbeamten,
die selbst hungrige Kinder zu Hause hatten, bestachen; manchmal kam es zu
wirklichen Schlachten mit Revolver und Messer, die diese Burschen nach
vierjähriger Frontübung ebenso gut zu handhaben verstanden wie sich auf der
Flucht im Gelände militärisch kunstgerecht zu verbergen. Von Woche zu
Woche wurde das Chaos größer, die Bevölkerung aufgeregter. Denn von Tag
zu Tag machte sich die Entwertung des Geldes fühlbarer. Die Nachbarstaaten
hatten die alten österreichisch-ungarischen Noten durch eigene ersetzt und
dem winzigen Österreich mehr oder minder die Hauptlast der alten ›Krone‹
zur Einlösung zugeworfen. Als erstes Zeichen des Mißtrauens in der
Bevölkerung verschwand das Hartgeld, denn ein Stückchen Kupfer oder
Nickel stellte immerhin ›Substanz‹ dar gegenüber dem bloß bedruckten
Papier. Der Staat trieb zwar die Notenpresse zur Höchstleistung an, um
möglichst viel solchen künstlichen Geldes nach Mephistopheles’ Rezept zu
schaffen, kam aber der Inflation nicht mehr nach; so begann jede Stadt, jedes
Städtchen und schließlich jedes Dorf sich selbst ›Notgeld‹ zu drucken, das im
Nachbardorf schon wieder zurückgewiesen und später in richtiger Erkenntnis
seines Unwerts meist einfach weggeworfen wurde. Ein Nationalökonom, der
alle diese Phasen plastisch zu beschreiben wüßte, die Inflation in Österreich
zuerst und dann in Deutschland, könnte nach meinem Gefühl an Spannung
leicht jeden Roman übertreffen, denn das Chaos nahm immer phantastischere
Formen an. Bald wußte niemand mehr, was etwas kostete. Die Preise
sprangen willkürlich; eine Schachtel Zündhölzer kostete in einem Geschäft,
das rechtzeitig den Preis aufgeschlagen hatte, das Zwanzigfache wie in dem
anderen, wo ein biederer Mann arglos seine Ware noch zum Preise von
gestern verkaufte; zum Lohn für seine Redlichkeit war dann in einer Stunde
sein Geschäft ausgeräumt, denn einer erzählte es dem andern, und jeder lief
und kaufte, was verkäuflich war, gleichgültig ob er es benötigte oder nicht.
Selbst ein Goldfisch oder ein altes Teleskop war immerhin ›Substanz‹, und
jeder wollte Substanz statt Papier. Am groteskesten entwickelte sich das
Mißverhältnis bei den Mieten, wo die Regierung zum Schutz der Mieter
(welche die breite Masse darstellten) und zum Schaden der Hausbesitzer jede
Steigerung untersagte. Bald kostete in Österreich eine mittelgroße Wohnung
für das ganze Jahr ihren Mieter weniger als ein einziges Mittagessen; ganz
Österreich hat eigentlich fünf oder zehn Jahre (denn auch nachher wurde eine
Kündigung untersagt) mehr oder minder umsonst gewohnt. Durch dieses tolle
Chaos wurde von Woche zu Woche die Situation widersinniger und
unmoralischer. Wer vierzig Jahre gespart und überdies sein Geld patriotisch in
Kriegsanleihe angelegt hatte, wurde zum Bettler. Wer Schulden besaß, war
ihrer ledig. Wer korrekt sich an die Lebensmittelverteilung hielt, verhungerte;
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286