Page - 217 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Grenzbewachung eingesetzt, um zu verhindern, daß alle Bedarfsgegenstände
statt in den heimischen Läden in dem billigeren Salzburg gekauft wurden, wo
man schließlich für eine Mark siebzig österreichische Kronen erhielt, und
energisch wurde am Zollamt jede aus Österreich stammende Ware konfisziert.
Aber ein Artikel blieb frei, den man nicht konfiszieren konnte: das Bier, das
einer im Leibe hatte. Und die biertrinkenden Bayern rechneten es sich am
Kurszettel von Tag zu Tag aus, ob sie im Salzburgischen infolge der
Entwertung der Krone fünf oder sechs oder zehn Liter Bier für denselben
Preis trinken konnten, den sie zu Hause für einen einzigen Liter zahlen
mußten. Eine herrlichere Lockung war nicht zu erdenken, und so zogen mit
Weibern und Kindern Scharen aus dem nachbarlichen Freilassing und
Reichenhall herüber, um sich den Luxus zu leisten, so viel Bier in sich
hineinzuschwemmen, als der Bauch nur fassen konnte. Jeden Abend zeigte
der Bahnhof ein wahres Pandämonium betrunkener, grölender, rülpsender,
speiender Menschenhorden; manche, die sich zu stark überladen, mußten auf
den Rollwagen, die man sonst zu Koffertransporten benutzte, zu den Waggons
geschafft werden, ehe der Zug, gefüllt mit bacchantischem Geschrei und
Gesang, wieder zurückfuhr in ihr Land. Freilich, sie ahnten nicht, die
fröhlichen Bayern, daß ihnen eine fürchterliche Revanche bevorstand. Denn
als die Krone sich stabilisierte und dagegen die Mark in astronomischen
Proportionen niederstürzte, fuhren vom selben Bahnhof die Österreicher
hinüber, um ihrerseits sich billig zu betrinken, und das gleiche Schauspiel
begann zum zweitenmal, allerdings in der entgegengesetzten Richtung. Dieser
Bierkrieg inmitten der beiden Inflationen gehört zu meinen sonderbarsten
Erinnerungen, weil er plastisch-grotesk im kleinen den ganzen
Irrsinnscharakter jener Jahre vielleicht am deutlichsten aufzeigt.
Das Merkwürdigste ist, daß ich mich heute mit bestem Willen nicht mehr
zu erinnern vermag, wie wir in diesen Jahren in unserem Hause gewirtschaftet
haben, woher eigentlich jeder in Österreich immer wieder die Tausende und
Zehntausende Kronen und dann in Deutschland die Millionen aufbrachte, die
man täglich zum nackten Leben verbrauchte. Aber das Geheimnisvolle war:
man hatte sie. Man gewöhnte sich, man paßte sich dem Chaos an.
Logischerweise müßte ein Ausländer, der jene Zeit nicht mitgemacht hat, sich
vorstellen, in einer Zeit, wo ein Ei in Österreich so viel kostete wie früher ein
Luxusautomobil und in Deutschland später mit vier Milliarden Mark soviel
etwa wie vordem der Grundwert aller Häuser Groß-Berlins – bezahlt wurde,
seien die Frauen mit zerrauftem Haar wie wahnsinnig durch die Straßen
gestürzt, die Geschäfte verödet gewesen, weil niemand mehr etwas kaufen
konnte, und vor allem die Theater und Vergnügungsstätten hätten völlig
leergestanden. Aber erstaunlicherweise war genau das Gegenteil der Fall. Der
Wille zur Kontinuität des Lebens erwies sich stärker als die Labilität des
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286