Page - 219 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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dem Untergang. Nie habe ich bei einem Volke und in mir selbst den Willen
zum Leben so stark empfunden wie damals, als es um das Letzte ging: um die
Existenz, um das Überdauern.
Dennoch und trotz allem: ich wäre in Verlegenheit, irgend jemandem zu
erklären, wie das ausgeplünderte, arme, unselige Österreich damals erhalten
geblieben ist. Zur Rechten hatte sich in Bayern die kommunistische
Räterepublik etabliert, zur Linken war Ungarn unter Bela Kun
bolschewistisch geworden; noch heute bleibt es mir unbegreiflich, daß die
Revolution nicht auf Österreich übergriff. An Explosivstoff fehlte es
wahrhaftig nicht. In den Straßen irrten die heimgekehrten Soldaten halb
verhungert und in zerrissenen Kleidern umher und sahen erbittert auf den
schamlosen Luxus der Profiteure des Kriegs und der Inflation, in den
Kasernen stand ein Bataillon ›rote Garde‹ schon schußbereit, und keinerlei
Gegenorganisation existierte. Zweihundert entschlossene Männer hätten
damals Wien und ganz Österreich in die Hand bekommen können. Aber
nichts Ernstliches geschah. Ein einziges Mal versuchte eine undisziplinierte
Gruppe einen Putsch, der von vier oder fünf Dutzend bewaffneter Polizisten
ohne Mühe niedergeschlagen wurde. So wurde das Wunder Wirklichkeit; dies
von seinen Kraftquellen, seinen Fabriken, seinen Kohlengruben, seinen
Ölfeldern abgeschnittene, dies ausgeplünderte Land mit einer wertlos
gewordenen, lawinenhaft abrutschenden Papierwährung erhielt sich,
behauptete sich, – vielleicht dank seiner Schwäche, weil die Menschen zu
kraftlos, zu ausgehungert waren, um noch für etwas zu kämpfen, vielleicht
aber auch durch seine geheimste, seine typisch österreichische Kraft: seine
eingeborene Konzilianz. Denn die beiden größten Parteien, die
sozialdemokratische und die christlichsoziale, verbanden sich in dieser
schwersten Stunde trotz ihrem tiefinnerlichen Gegensatz zu gemeinsamer
Regierung. Jede machte der andern Konzessionen, um eine Katastrophe zu
verhindern, die ganz Europa mit sich gerissen hätte. Langsam begannen sich
die Verhältnisse zu ordnen, zu konsolidieren, und zu unserem eigenen
Staunen ereignet sich das Unglaubhafte: dieser verstümmelte Staat bestand
fort und war sogar später willens, seine Unabhängigkeit zu verteidigen, als
Hitler kam, diesem opferwilligen, treuen und in Entbehrungen großartig
tapferen Volke seine Seele zu nehmen.
Aber nur äußerlich und im politischen Sinne war der radikale Umsturz
abgewehrt; innerlich vollzog sich eine ungeheure Revolution in diesen ersten
Nachkriegsjahren. Etwas war mit den Armeen zerschlagen worden: der
Glaube an die Unfehlbarkeit der Autoritäten, zu dem man unsere eigene
Jugend so überdemütig erzogen. Aber hätten die Deutschen ihren Kaiser
weiter bewundern sollen, der geschworen hatte zu kämpfen ›bis zum letzten
Hauch von Mann und Roß‹ und bei Nacht und Nebel über die Grenze
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286