Page - 221 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Zukunft. Eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung sollte auf
jedem Gebiete des Lebens mit ihr beginnen; und selbstverständlich begann
alles mit wilden Übertreibungen. Wer oder was nicht gleichaltrig war, galt als
erledigt. Statt wie vordem mit ihren Eltern zu reisen, zogen elfjährige,
zwölfjährige Kinder in organisierten und sexuell gründlich instruierten
Scharen als ›Wandervögel‹ durch das Land bis nach Italien und an die
Nordsee. In den Schulen wurden nach russischem Vorbild Schülerräte
eingesetzt, welche die Lehrer überwachten, der ›Lehrplan‹ umgestoßen, denn
die Kinder sollten und wollten bloß lernen, was ihnen gefiel. Gegen jede
gültige Form wurde aus bloßer Lust an der Revolte revoltiert, sogar gegen den
Willen der Natur, gegen die ewige Polarität der Geschlechter. Die Mädchen
ließen sich die Haare schneiden, und zwar so kurz, daß man sie in ihren
›Bubiköpfen‹ von Burschen nicht unterscheiden konnte, die jungen Männer
wiederum rasierten sich die Bärte, um mädchenhafter zu erscheinen,
Homosexualität und Lesbierinnentum wurden nicht aus innerem Trieb,
sondern als Protest gegen die althergebrachten, die legalen, die normalen
Liebesformen große Mode. Jede Ausdrucksform des Daseins bemühte sich,
radikal und revolutionär aufzutrumpfen, selbstverständlich auch die Kunst.
Die neue Malerei erklärte alles, was Rembrandt, Holbein und Velasquez
geschaffen, für abgetan und begann die wildesten kubistischen und
surrealistischen Experimente. Überall wurde das verständliche Element
verfemt, die Melodie in der Musik, die Ähnlichkeit im Porträt, die Faßlichkeit
in der Sprache. Die Artikel, ›der, die, das‹ wurden ausgeschaltet, der Satzbau
auf den Kopf gestellt, man schrieb ›steil‹ und ›keß‹ im Telegrammstil, mit
hitzigen Interjektionen, außerdem wurde jede Literatur, die nicht aktivistisch
war, das heißt, nicht politisch theoretisierte, auf den Müllhaufen geworfen.
Die Musik suchte starrsinnig eine neue Tonalität und spaltete die Takte, die
Architektur drehte die Häuser von innen nach außen, im Tanz verschwand der
Walzer vor kubanischen und negroiden Figuren, die Mode erfand mit starker
Betonung der Nacktheit immer andere Absurditäten, im Theater spielte man
›Hamlet‹ im Frack und versuchte explosive Dramatik. Auf allen Gebieten
begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene,
Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte;
je jünger einer war, je weniger er gelernt hatte, desto willkommener war er
durch seine Unverbundenheit mit jeder Tradition – endlich tobte sich die
große Rache der Jugend gegen unsere Elternwelt triumphierend aus. Aber
inmitten dieses wüsten Karnevals bot mir nichts ein tragikomischeres
Schauspiel als zu sehen, wie viele Intellektuelle der älteren Generation in der
panischen Angst, überholt zu werden und als ›unaktuell‹ zu gelten, sich
verzweifelt rasch eine künstliche Wildheitanschminkten und auch den
offenkundigsten Abwegen täppisch hinkenden Schritts nachzuschleichen
suchten. Biedere, brave, graubärtige Akademieprofessoren übermalten ihre
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286