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einstigen, jetzt unverkäuflich gewordenen ›Stilleben‹ mit symbolischen
Würfeln und Kuben, weil die jungen Direktoren (überall suchte man jetzt
Junge und besser noch: Jüngste) alle andern Bilder als zu ›klassizistisch‹ aus
den Galerien räumten und ins Depot stellten. Schriftsteller, die jahrzehntelang
ein rundes, klares Deutsch geschrieben, zerhackten folgsam ihre Sätze und
exzedierten in ›Aktivismus‹, behäbige preußische Geheimräte dozierten auf
dem Katheder Karl Marx, alte Hofballerinen tanzten dreiviertelnackt mit
›gesteilten‹ Verrenkungen die ›Appassionata‹ Beethovens und Schönbergs
›Verklärte Nacht‹. Überall lief das Alter verstört der letzten Mode nach; es
gab plötzlich nur den einen Ehrgeiz, ›jung‹ zu sein und hinter der gestern
noch aktuellen eine noch aktuellere, noch radikalere und noch nie dagewesene
Richtung prompt zu erfinden.
Welch eine wilde, anarchische, unwahrscheinliche Zeit, jene Jahre, da mit
dem schwindenden Wert des Geldes alle andern Werte in Österreich und
Deutschland ins Rutschen kamen! Eine Epoche begeisterter Ekstase und
wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus.
Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten:
Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Somnambulismus, Anthroposophie,
Handleserei, Graphologie, indische Yoghilehren und paracelsischer
Mystizismus. Alles, was äußerste Spannungen über die bisher bekannten
hinausversprach, jede Form des Rauschgifts, Morphium, Kokain und Heroin,
fand reißenden Absatz, in den Theaterstücken bildeten Inzest und Vatermord,
in der Politik Kommunismus oder Faschismus die einzig erwünschte extreme
Thematik; unbedingt verfemt hingegen war jede Form der Normalität und der
Mäßigung. Aber ich möchte sie nicht missen, diese chaotische Zeit, nicht aus
meinem eigenen Leben, nicht aus der Entwicklung der Kunst. Wie jede
geistige Revolution im ersten Anschwung orgiastisch vorstoßend, hat sie die
Luft vom Stickig-Traditionellen reingefegt, die Spannungen vieler Jahre
entladen, und wertvolle Anregungen sind trotz allem von ihren verwegenen
Experimenten zurückgeblieben. So sehr uns ihre Übertriebenheiten
befremdeten, wir fühlten doch kein Recht, sie zu tadeln und hochmütig
abzulehnen, denn im Grunde versuchte diese neue Jugend gutzumachen wenn
auch zu hitzig, zu ungeduldig –, was unsere Generation durch Vorsicht und
Abseitigkeit versäumt. Im Innersten war ihr Instinkt richtig, daß die
Nachkriegszeit anders sein müsse als die des Vorkriegs; und eine neue Zeit,
eine bessere Welt – hatten wir Älteren sie nicht ebenso gewollt vor dem
Kriege und während des Krieges? Freilich, auch nach dem Kriege hatten wir,
die Älteren, neuerdings unsere Unfähigkeit bewiesen, der gefährlichen Neu-
Politisierung der Welt rechtzeitig eine übernationale Organisation
entgegenzustellen. Noch während der Friedensverhandlungen hatte zwar
Henri Barbusse, dem sein Roman ›Le Feu‹ eine Weltstellung gegeben,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286