Page - 223 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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versucht, eine Einigung aller europäischen Intellektuellen im Sinne der
Versöhnung einzuleiten. ›Clarté‹ sollte diese Gruppe sich nennen – die
Klardenkenden – und die Schriftsteller und Künstler aller Nationen zum
Gelöbnis vereinigen, in Hinkunft jeder Verhetzung der Völker
entgegenzutreten. Barbusse hatte mir und René Schickele gemeinsam die
Führung der deutschen Gruppe angetragen und damit den schwierigeren Teil
der Aufgabe, denn in Deutschland brannte noch die Erbitterung über den
Friedensvertrag von Versailles. Es war wenig aussichtsreich, Deutsche von
Rang für einen geistigen Übernationalismus zu gewinnen, solange das
Rheinland, die Saar und der Mainzer Brückenkopf noch von fremden Truppen
besetzt waren. Dennoch wäre es gelungen, eine Organisation zu schaffen, wie
sie Galsworthy später mit dem P.E.N.-Klub verwirklichte, wenn uns Barbusse
nicht im Stich gelassen hätte. Verhängnisvollerweise hatte eine Reise nach
Rußland ihn durch den Enthusiasmus, der dort aus den großen Massen seiner
Person entgegenbrandete, zur Überzeugung geführt, bürgerliche Staaten und
Demokratien seien unfähig, eine wahre Verbrüderung der Völker
herbeizuführen, und nur im Kommunismus sei eine Weltverbrüderung
denkbar. Unmerklich suchte er aus ›Clarté‹ ein Instrument des
Klassenkampfes zu machen, wir aber verweigerten uns einer Radikalisierung,
die unsere Reihen notwendigerweise schwächen mußte. So fiel auch dies an
sich bedeutende Projekt vorzeitig in sich zusammen. Wieder hatten wir im
Kampf um die geistige Freiheit versagt aus zu großer Liebe zur eigenen
Freiheit und Unabhängigkeit.
So blieb nur eines: still und zurückgezogen sein eigenes Werk zu tun. Für
die Expressionisten und – wenn ich so sagen darf – Exzessionisten war ich
mit meinen sechsunddreißig Jahren schon in die ältere, in die eigentlich
bereits verstorbene Generation abgerückt, weil ich mich weigerte, mich ihnen
äffisch anzupassen. Meine früheren Arbeiten gefielen mir selbst nicht mehr,
ich ließ keines jener Bücher aus meiner ›ästhetischen‹ Zeit mehr neu
auflegen. Somit hieß es noch einmal beginnen und abwarten, bis die
ungeduldige Welle all dieser ›Ismen‹ rückwärts lief, und für dieses Sich-
Bescheiden kam mir mein Mangel an persönlichem Ehrgeiz förderlich zugute.
Ich begann die große Serie der ›Baumeister der Welt‹ gerade um der
Gewißheit willen, damit Jahre beschäftigt zu bleiben, ich schrieb Novellen
wie ›Amok‹ und ›Brief einer Unbekannten‹ in völlig unaktivistischer
Gelassenheit. Das Land um mich, die Welt um mich begannen allmählich in
Ordnung zu kommen, so durfte auch ich nicht mehr zögern; vorbei war die
Zeit, wo ich mir vortäuschen konnte, alles, was ich beginne, sei nur
provisorisch. Die Mitte des Lebens war erreicht, das Alter der bloßen
Versprechungen vorüber; jetzt galt es, das Verheißene zu bekräftigen und sich
selbst zu bewähren oder sich endgültig aufzugeben.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286