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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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des ›Popolo d’Italia‹ und spürte an dem scharfen, lateinisch knappen, plastischen Stil Mussolinis die gleiche Entschlossenheit wie bei dem Sturmlauf jener jungen Leute über den Markusplatz. Selbstverständlich konnte ich die Dimensionen nicht ahnen, die dieser Kampf schon ein Jahr später annehmen sollte. Aber daß ein Kampf hier und überall bevorstand und daß unser Friede nicht der Friede war, war mir von dieser Stunde bewußt. Dies war für mich die erste Warnung, daß unter der scheinbar beruhigten Oberfläche unser Europa voll gefährlicher Unterströmungen war. Die zweite ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte mich, von der Lust des Reisens neuerdings angereizt, entschlossen, im Sommer nach Westerland an der deutschen Nordsee zu fahren. Ein Besuch in Deutschland hatte damals für einen Österreicher noch etwas Bestärkendes. Die Mark hatte sich gegen unsere verkümmerte Krone bisher großartig gehalten, der Genesungsprozeß schien in vollstem Gange. Pünktlich auf die Minute die Züge, sauber und blank die Hotels, überall rechts und links vom Gleise neue Häuser, neue Fabriken, überall die tadellose, lautlose Ordnung, die man im Vorkrieg gehaßt und im Chaos wieder schätzengelernt. Eine gewisse Spannung lag freilich in der Luft, denn das ganze Land wartete, ob die Verhandlungen in Genua und Rapallo, die ersten, bei denen Deutschland als Gleichberechtigter neben den vormals feindlichen Mächten saß, die erhoffte Erleichterung der Kriegslasten oder zumindest eine schüchterne Geste wirklicher Verständigung bringen würden. Der Leiter dieser in der Geschichte Europas so denkwürdigen Verhandlungen war niemand anderer als mein alter Freund Rathenau. Sein genialer Organisationsinstinkt hatte sich schon während des Krieges großartig bewährt; gleich in der ersten Stunde hatte er die schwächste Stelle der deutschen Wirtschaft erkannt, an der sie später auch den tödlichen Stoß empfing: die Rohstoffversorgung, und rechtzeitig hatte er (auch hier die Zeit vorausnehmend) die ganze Wirtschaft zentral organisiert. Als es dann nach dem Kriege galt, einen Mann zu finden, der – au pair den Klügsten und Erfahrensten unter den Gegnern – diesen als deutscher Außenminister diplomatisch entgegentreten konnte, fiel die Wahl selbstverständlich auf ihn. Zögernd rief ich ihn in Berlin an. Wie einen Mann behelligen, während er das Schicksal der Zeit formte? »Ja, es ist schwer«, sagte er mir am Telephon, »auch die Freundschaft muß ich jetzt dem Dienst aufopfern.« Aber mit seiner außerordentlichen Technik, jede Minute auszunutzen, fand er sofort die Möglichkeit eines Zusammenseins. Er habe ein paar Visitenkarten bei den verschiedenen Gesandtschaften abzuwerfen, und da er vom Grunewald eine halbe Stunde im Auto dazu herumfahren müsse, sei es am einfachsten, ich käme zu ihm und wir plauderten dann diese halbe Stunde im Auto. 227
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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