Page - 229 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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zu ahnen, daß es der endgültige war. Und später erkannte ich auf den
Photographien, daß die Straße, auf der wir gemeinsam gefahren, dieselbe war,
wo kurz darauf die Mörder dem gleichen Auto aufgelauert: eigentlich war es
nur Zufall, daß ich nicht Zeuge dieser historisch verhängnisvollen Szene
gewesen. So konnte ich noch bewegter und sinnlich eindrucksvoller die
tragische Episode nachfühlen, mit der das Unglück Deutschlands, das
Unglück Europas begann.
Ich war an diesem Tage schon in Westerland, Hunderte und Aberhunderte
Kurgäste badeten heiter am Strand. Wieder spielte eine Musikkapelle wie an
jenem Tage, da Franz Ferdinands Ermordung gemeldet wurde, vor sorglos
sommerlichen Menschen, als wie weiße Sturmvögel die Zeitungsausträger
über die Promenade stürmten: »Walther Rathenau ermordet!« Eine Panik
brach aus, und sie erschütterte das ganze Reich. Mit einem Ruck stürzte die
Mark, und es gab kein Halten mehr, ehe nicht die phantastischen
Irrsinnszahlen von Billionen erreicht waren. Nun erst begann der wahre
Hexensabbat von Inflation, gegen den unsere österreichische mit ihrer doch
schon absurden Relation von 1 zu 15 000 nur ein armseliges Kinderspiel
gewesen. Sie zu erzählen mit ihren Einzelheiten, ihren Unglaublichkeiten
würde ein Buch fordern, und dieses Buch würde auf die Menschen von heute
wie ein Märchen wirken. Ich habe Tage erlebt, wo ich morgens
fünfzigtausend Mark für eine Zeitung zahlen mußte und abends
hunderttausend; wer ausländisches Geld wechseln mußte, verteilte die
Einwechslung auf Stunden, denn um vier Uhr bekam er das Mehrfache von
dem, was er um drei, und um fünf Uhr wieder das Mehrfache von dem, was er
sechzig Minuten vorher bekommen hätte. Ich sandte zum Beispiel meinem
Verleger ein Manuskript, an dem ich ein Jahr gearbeitet hatte, und meinte
mich zu sichern, indem ich sofortige Vorausbezahlung für zehntausend
Exemplare verlangte; bis der Scheck überwiesen war, deckte er kaum, was
vor einer Woche die Frankierung des Pakets gekostet; man zahlte in der
Straßenbahn mit Millionen, Lastwagen karrten das Papiergeld von der
Reichsbank zu den Banken, und vierzehn Tage später fand man
Hunderttausendmarkscheine in der Gosse: ein Bettler hatte sie verächtlich
weggeworfen. Ein Schuhsenkel kostete mehr als vordem ein Schuh, nein,
mehr als ein Luxusgeschäft mit zweitausend Paar Schuhen, ein zerbrochenes
Fenster zu reparieren mehr als früher das ganze Haus, ein Buch mehr als
vordem die Druckerei mit ihren Hunderten Maschinen. Für hundert Dollar
konnte man reihenweise sechsstöckige Häuser am Kurfürstendamm kaufen.
Fabriken kosteten umgerechnet nicht mehr als früher ein Schubkarren.
Halbwüchsige Jungen, die eine Kiste Seife im Hafen vergessen gefunden,
sausten monatelang in Autos herum und lebten wie Fürsten, indem sie jeden
Tag ein Stück verkauften, während ihre Eltern, einstmals reiche Leute, als
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286