Page - 257 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Spiegel der tausend Arten schöpferischer Methoden zu haben; die bloße
Erweiterung der Sammlung lockte mich nicht mehr, sondern was ich in den
letzten zehn Jahren meines Sammelns vornahm, war eine ständige
Veredelung. Hatte es mir zuerst genügt, von einem Dichter oder Musiker
Blätter zu haben, die ihn in einem schöpferischen Momente zeigten, so ging
allmählich mein Bemühen dahin, jeden darzustellen in seinem
allerglücklichsten schöpferischen Moment, in dem seines höchsten Gelingens.
Ich suchte also von einem Dichter nicht nur die Handschrift eines seiner
Gedichte, sondern eines seiner schönsten Gedichte und womöglich eines jener
Gedichte, das von der Minute an, da die Inspiration in Tinte oder Bleistift
zum erstenmal irdischen Niederschlag fand, in alle Ewigkeit reicht. Ich wollte
von den Unsterblichen – verwegene Anmaßung! – in der Reliquie ihrer
Handschrift gerade das, was sie für die Welt unsterblich gemacht hat.
So war die Sammlung eigentlich in ständigem Fluß; jedes für diesen
höchsten Anspruch mindere Blatt, das ich besaß, wurde ausgeschaltet,
verkauft oder eingetauscht, sobald es mir gelang, ein wesentlicheres, ein
charakteristischeres, ein – wenn ich so sagen darf – ewigkeitshaltigeres zu
finden. Und wunderbarerweise gelang es in vielen Fällen, denn es gab außer
mir nur ganz wenige, die mit solcher Kenntnis, solcher Zähigkeit und
gleichzeitig mit einem solchen Wissen die wesentlichen Stücke sammelten.
So vereinigte schließlich erst eine Mappe und dann ein ganzer Kasten, durch
Metall und Asbest der Verderbnis wehrend, Urhandschriften von Werken oder
aus Werken, die zu den dauerhaftesten Manifesten der schöpferischen
Menschheit gehören. Ich habe hier, nomadisch wie ich heute zu leben
gezwungen bin, den Katalog jener längst zerstreuten Sammlung nicht zur
Hand und kann nur aufs Geratewohl einige der Dinge aufzählen, in denen der
irdische Genius in einem Ewigkeitsmoment verkörpert war.
Da war ein Blatt aus Lionardos Arbeitsbuch, Bemerkungen in
Spiegelschrift zu Zeichnungen; von Napoleon in kaum leserlicher Schrift auf
vier Seiten hingejagt der Armeebefehl an seine Soldaten bei Rivoli; da war
ein ganzer Roman in Druckbogen von Balzac, jedes Blatt ein Schlachtfeld mit
tausend Korrekturen und mit unbeschreiblicher Deutlichkeit seinen
Titanenkampf darstellend von Korrektur zu Korrektur (eine Photokopie ist
glücklicherweise für eine amerikanische Universität gerettet). Da war
Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹ in einer ersten, unbekannten Fassung, die er
lange vor der Veröffentlichung für die geliebte Cosima Wagner geschrieben,
eine Kantate von Bach und die Arie der Alceste von Gluck und eine von
Händel, dessen Musikmanuskripte die seltensten von allen sind. Immer war
das Charakteristischste gesucht und meist gefunden, von Brahms die
›Zigeunerlieder‹, von Chopin die ›Barcarole‹, von Schubert das unsterbliche
›An die Musik‹, von Haydn die unvergängliche Melodie des ›Gotte erhalte‹
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286