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oder geschieht, beschwert meine Gedanken nicht sehr. Immer war nur das
Schaffen meine Freude, nie das Geschaffene. So klage ich dem einst
Besessenen nicht nach. Denn wenn wir Gejagten und Vertriebenen in diesen
Zeiten, die jeder Kunst und jeder Sammlung feind sind, eine Kunst noch neu
zu lernen hatten, so war es die des Abschiednehmens von allem, was einstens
unser Stolz und unsere Liebe gewesen.
So gingen mit Arbeit und Reisen, mit Lernen, Lesen, Sammeln und
Genießen die Jahre. Eines Novembermorgens 1931 wachte ich auf und war
fünfzig Jahre alt. Dem braven weißhaarigen Salzburger Postboten schuf das
Datum einen schlimmen Tag. Da in Deutschland die gute Gepflogenheit
herrschte, den fünfzigsten Geburtstag eines Autors in den Zeitungen
ausführlich zu feiern, hatte der alte Mann eine stattliche Fracht von Briefen
und Telegrammen die steilen Stufen emporzuschleppen. Ehe ich sie öffnete
und las, überdachte ich, was dieser Tag mir bedeutete. Das fünfzigste
Lebensjahr meint eine Wende; man blickt beunruhigt zurück; wieviel seines
Weges man schon gegangen, und fragt sich im stillen, ob er noch weiter
aufwärts führt. Ich überdachte die gelebte Zeit; wie von meinem Haus auf die
Kette der Alpen und das sanft niederfallende Tal blickte ich zurück auf diese
fünfzig Jahre und mußte mir sagen, daß es frevlerisch wäre, wollte ich nicht
dankbar sein. Mir war schließlich mehr, unermeßlich mehr gegeben worden
als ich erwartet oder zu erreichen gehofft. Das Medium, durch das ich
mein Wesen entwickeln und zum Ausdruck bringen wollte, die dichterische,
die literarische Produktion hatte eine Wirksamkeit gezeitigt weit über meine
verwegensten Knabenträume. Da lag, als Geschenk des Insel-Verlags zu
meinem fünfzigsten Geburtstag gedruckt, eine Bibliographie meiner in allen
Sprachen erschienenen Bücher und war in sich selbst schon ein Buch; keine
Sprache fehlte, nicht Bulgarisch und Finnisch, nicht Portugiesisch und
Armenisch, nicht Chinesisch und Maratti. In Blindenschrift, in Stenographie,
in allen exotischen Lettern und Idiomen waren Worte und Gedanken von mir
zu Menschen gegangen, ich hatte meine Existenz unermeßlich über den Raum
meines Wesens hinaus ausgebreitet. Ich hatte manche der besten Menschen
unserer Zeit zu persönlichen Freunden gewonnen, ich hatte die vollendetsten
Aufführungen genossen; die ewigen Städte, die ewigen Bilder, die schönsten
Landschaften der Erde hatte ich sehen dürfen und genießen. Ich war frei
geblieben, unabhängig von Amt und Beruf, meine Arbeit war meine Freude
und mehr noch, sie hatte anderen Freude bereitet! Was konnte da Schlimmes
noch geschehen? Da waren meine Bücher: konnte sie jemand zunichte
machen? (So dachte ich ahnungslos in dieser Stunde.) Da mein Haus – konnte
mich jemand aus ihm vertreiben? Da meine Freunde – konnte ich sie jemals
verlieren? Ich dachte ohne Angst an Tod, an Krankheit, aber auch nicht das
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286