Page - 266 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 266 -
Text of the Page - 266 -
und Mussolini, in Frankreich ein Briand wirklich aus dem Volke zu den
höchsten Staatsmännern aufgestiegen waren, galt es für den Deutschen als
undenkbar, daß ein Mann, der nicht einmal die Bürgerschule zu Ende besucht,
geschweige denn eine Hochschule absolviert, daß jemand, der in
Männerheimen übernachtet und auf heute noch nicht aufgeklärte Weise
jahrelang ein dunkles Leben gefristet, je einer Stellung sich auch nur nähern
könnte, die ein Freiherr vom Stein, ein Bismarck, ein Fürst Bülow
innegehabt. Nichts so sehr als dieser Bildungshochmut hat die deutschen
Intellektuellen verleitet, in Hitler noch den Bierstubenagitator zu sehen, der
nie ernstlich gefährlich werden könnte, als er längst schon dank seiner
unsichtbaren Drahtzieher sich mächtige Helfer in den verschiedensten
Kreisen gewonnen. Und selbst als er an jenem Januartag 1933 Kanzler
geworden war, betrachteten die große Menge und sogar diejenigen, die ihn an
diesen Posten geschoben, ihn nur als provisorischen Platzhalter und die
nationalsozialistische Herrschaft als Episode.
Damals offenbarte sich die zynisch geniale Technik Hitlers zum erstenmal
in großem Stil. Er hatte seit Jahren nach allen Seiten hin Versprechungen
gemacht und bei allen Parteien wichtige Exponenten gewonnen, von denen
jeder meinte, sich der mystischen Kräfte des ›unbekannten Soldaten‹ für seine
Zwecke bedienen zu können. Aber dieselbe Technik, die Hitler später in der
großen Politik geübt, Bündnisse mit Eid und deutscher Treuherzigkeit gerade
mit jenen zu schließen, die er vernichten und ausrotten wollte, feierte ihren
ersten Triumph. So vollkommen wußte er nach allen Seiten hin durch
Versprechungen zu täuschen, daß am Tage, da er zur Macht kam, Jubel in den
allergegensätzlichsten Lagern herrschte. Die Monarchisten in Doorn meinten,
er sei des Kaisers getreuester Wegbereiter, aber ebenso frohlockten die
bayrischen, die wittelsbachischen Monarchisten in München; auch sie hielten
ihn für ihren Mann. Die Deutschnationalen hofften, er werde ihnen das Holz
kleinschlagen, das ihre Öfen heizen sollte; ihr Führer Hugenberg hatte sich
vertraglich den wichtigsten Platz gesichert in Hitlers Kabinett und glaubte
damit den Fuß im Steigbügel zu haben – natürlich flog er trotz beschworener
Vereinbarung nach den ersten Wochen hinaus. Die Schwerindustrie fühlte
durch Hitler sich von der Bolschewistenangst entlastet, sie sah den Mann an
der Macht, den sie seit Jahren im geheimen finanziert; und gleichzeitig atmete
das verarmte Kleinbürgertum, dem er in hundert Versammlungen die
›Brechung der Zinsknechtschaft‹ versprochen hatte, begeistert auf. Die
kleinen Händler erinnerten sich an die Zusage der Schließung der großen
Warenhäuser, ihrer gefährlichsten Konkurrenz (eine Zusage, die nie erfüllt
wurde), und insbesondere dem Militär war Hitler willkommen, weil er
militaristisch dachte und den Pazifismus beschimpfte. Sogar die
Sozialdemokraten sahen seinen Aufstieg nicht so unfreundlich an, wie man
266
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286