Page - 268 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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mit meinen Büchern in Deutschland. Ich werde seine Verblüffung nicht
vergessen. »Wer sollte Ihre Bücher verbieten?« sagte er damals, 1933, noch
ganz erstaunt. »Sie haben doch nie ein Wort gegen Deutschland geschrieben
oder sich in Politik eingemengt.« Man sieht: all die Ungeheuerlichkeiten, wie
Bücherverbrennungen und Schandpfahlfeste, die wenige Monate später schon
Fakten sein sollten, waren einen Monat nach Hitlers Machtergreifung selbst
für weitdenkende Leute noch jenseits aller Faßbarkeit. Denn der
Nationalsozialismus in seiner skrupellosen Täuschertechnik hütete sich, die
ganze Radikalität seiner Ziele zu zeigen, ehe man die Welt abgehärtet hatte.
So übten sie vorsichtig ihre Methode: immer nur eine Dosis und nach der
Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine einzelne Pille und dann einen
Augenblick Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen, ob das Weltgewissen
diese Dosis noch vertrage. Und da das europäische Gewissen – zum Schaden
und zur Schmach unserer Zivilisation – eifrigst seine Unbeteiligtheit betonte,
weil diese Gewalttaten doch »jenseits der Grenze« vor sich gingen, wurden
die Dosen immer kräftiger, bis schließlich ganz Europa an ihnen zugrunde
ging. Nichts Genialeres hat Hitler geleistet als diese Taktik des langsamen
Vorfühlens und immer stärkeren Steigerns gegen ein moralisch und bald auch
militärisch immer schwächer werdendes Europa. Auch die innerlich längst
beschlossene Aktion zur Vernichtung jedes freien Wortes und jedes
unabhängigen Buches in Deutschland erfolgte nach jener vortastenden
Methode. Es wurde nicht etwa gleich ein Gesetz erlassen – das kam erst zwei
Jahre später –, das unsere Bücher glatt verbot; man veranstaltete statt dessen
zunächst nur eine leise Tastprobe, wie weit man gehen könne, in dem man die
erste Attacke auf unsere Bücher einer offiziell unverantwortlichen Gruppe
zuschob, den nationalsozialistischen Studenten. Nach dem gleichen System,
mit dem man ›Volkszorn‹ inszenierte, um den längst beschlossenen
Judenboykott durchzusetzen, gab man ein geheimes Stichwort an die
Studenten, ihre ›Empörung‹ gegen unsere Bücher öffentlich zur Schau zu
stellen. Und die deutschen Studenten, froh jeder Gelegenheit, reaktionäre
Gesinnung bekunden zu können, rotteten sich folgsam an jeder Universität
zusammen, holten Exemplare unserer Bücher aus den Buchhandlungen und
marschierten unter wehenden Fahnen mit dieser Beute auf einen öffentlichen
Platz. Dort wurden die Bücher entweder nach altem deutschem Brauch –
Mittelalter war mit einemmal Trumpf geworden – an den Schandpfahl, an den
öffentlichen Pranger genagelt – ich habe selbst ein solches mit einem Nagel
durchbohrtes Exemplar eines meiner Bücher besessen, das ein befreundeter
Student nach der Exekution gerettet und mir zum Geschenk gemacht –, oder
sie wurden, da es leider nicht erlaubt war, Menschen zu verbrennen, auf
großen Scheiterhaufen unter Rezitierung patriotischer Sprüche zu Asche
verbrannt. Zwar hatte nach langem Zögern der Propagandaminister Goebbels
im letzten Augenblick beschlossen, der Bücherverbrennung seinen Segen zu
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286