Page - 270 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Zeitungsankündigungen und von allen Plakatsäulen spurlos verschwunden.
Aber ein einzelnes Wort, das sie störte, zu verbieten, ja selbst unsere
gesamten Bücher zu verbrennen und zu zerstören, war immerhin eine
ziemlich einfache Sache gewesen. In einem bestimmten Fall dagegen konnten
sie mich nicht treffen, ohne zugleich den Mann zu schädigen, den sie eben in
diesem kritischen Augenblick für ihr Prestige vor der Welt höchst notwendig
brauchten, den größten, den berühmtesten lebenden Musiker der deutschen
Nation, Richard Strauss, mit dem ich gerade gemeinsam eine Oper vollendet
hatte.
Es war dies meine erste Zusammenarbeit mit Richard Strauss gewesen.
Vordem hatte seit der ›Elektra‹ und dem ›Rosenkavalier‹ Hugo von
Hofmannsthal alle Operntexte für ihn geschrieben, und ich war nie Richard
Strauss persönlich begegnet. Nach dem Tode Hofmannsthals ließ er mir nun
durch meinen Verleger sagen, er möchte gerne eine neue Arbeit beginnen, und
ob ich bereit sei, ihm einen Operntext zu schreiben. Ich empfand ganz das
Ehrenvolle eines solchen Antrags. Seit Max Reger meine ersten Gedichte
vertont, hatte ich immer in Musik und mit Musikern gelebt. Busoni,
Toscanini, Bruno Walter, Alban Berg war ich in naher Freundschaft
verbunden. Aber ich wußte keinen produzierenden Musiker unserer Zeit, dem
ich zu dienen williger bereit gewesen wäre als Richard Strauss, diesem letzten
aus dem großen Geschlecht der deutschen Vollblutmusiker, das von Händel
und Bach über Beethoven und Brahms bis in unsere Tage reicht. Ich erklärte
mich sofort bereit und machte gleich bei der ersten Begegnung Strauss den
Vorschlag, als Motiv einer Oper das Thema ›The Silent Woman‹ von Ben
Jonson zu nehmen, und es bedeutete für mich eine gute Überraschung, wie
rasch, wie klarsichtig Strauss auf alle meine Vorschläge einging. Nie hatte ich
bei ihm einen solchen rapid auffassenden Kunstverstand, eine so erstaunliche
dramaturgische Kenntnis vermutet. Noch während man ihm einen Stoff
erzählte, formte er ihn schon dramatisch aus und paßte ihn sofort – was noch
erstaunlicher war – den Grenzen seines eigenen Könnens an, die er mit einer
fast unheimlichen Klarheit übersah. Mir sind viele große Künstler in meinem
Leben begegnet; nie aber einer, der so abstrakt und unbeirrbar Objektivität
gegen sich selber zu bewahren wußte. So bekannte Strauss mir freimütig
gleich in der ersten Stunde, er wisse wohl, daß ein Musiker mit siebzig Jahren
nicht mehr die ursprüngliche Kraft der musikalischen Inspiration besitze.
Symphonische Werke wie ›Till Eulenspiegel‹ oder ›Tod und Verklärung‹
würden ihm kaum mehr gelingen, denn gerade die reine Musik bedürfe eines
Höchstmaßes von schöpferischer Frische. Aber das Wort inspiriere ihn noch
immer. Ein Vorhandenes, eine schon geformte Substanz vermöge er noch
dramatisch voll zu illustrieren, weil aus Situationen und Worten sich ihm
musikalische Themen spontan entwickelten, und darum habe er sich jetzt, in
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286