Page - 272 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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komponiert – wie Johann Sebastian Bach, wie alle diese sublimen
Handwerker ihrer Kunst – ruhig und regelmäßig. Um neun Uhr morgens setzt
er sich an seinen Tisch und führt genau an der Stelle die Arbeit fort, wo er
gestern zu komponieren aufgehört, regelmäßig mit Bleistift die erste Skizze
schreibend, mit Tinte die Klavierpartitur, und so pausenlos weiter bis zwölf
oder ein Uhr. Nachmittags spielt er Skat, überträgt zwei, drei Seiten in die
Partitur und dirigiert allenfalls abends im Theater. Jede Art von Nervosität ist
ihm fremd, bei Tag und bei Nacht ist sein Kunstintellekt immer gleich hell
und klar. Wenn der Diener an die Tür klopft, um ihm den Frack zu bringen
zum Dirigieren, steht er auf von der Arbeit, fährt ins Theater und dirigiert mit
der gleichen Sicherheit und der gleichen Ruhe, wie er nachmittags Skat spielt,
und die Inspiration setzt am nächsten Morgen genau an der gleichen Stelle
wieder ein. Denn Strauss ›kommandiert‹ nach Goethes Wort seine Einfälle;
Kunst heißt für ihn Können und sogar Alles-Können, wie sein lustiges Wort
bezeugt: »Was ein richtiger Musiker sein will, der muß auch eine Speiskarte
komponieren können.« Schwierigkeiten erschrecken ihn nicht, sondern
machen seiner formenden Meisterschaft nur Spaß. Ich erinnere mich mit
Vergnügen, wie seine kleinen blauen Augen funkelten, als er mir bei einer
Stelle triumphierend sagte: »Da habe ich der Sängerin etwas aufzulösen
gegeben! Die soll sich nur verflucht plagen, bis sie das herausbringt.« In
solchen seltenen Sekunden, wo sein Auge auffunkelt, spürt man, daß etwas
Dämonisches in diesem merkwürdigen Menschen tief verborgen liegt, der
zuerst durch das Pünktliche, das Methodische, das Solide, das Handwerkliche,
das scheinbar Nervenlose seiner Arbeitsweise einen ein wenig mißtrauisch
macht, wie ja auch sein Gesicht zuerst eher banal wirkt mit seinen dicken
kindlichen Wangen, der etwas gewöhnlichen Rundlichkeit der Züge und der
nur zögernd zurückgewölbten Stirn. Aber ein Blick in seine Augen, diese
hellen, blauen, stark strahlenden Augen, und sofort spürt man irgendeine
besondere magische Kraft hinter dieser bürgerlichen Maske. Es sind vielleicht
die wachsten Augen, die ich je bei einem Musiker gesehen, nicht dämonische,
aber irgendwie hellsichtige, die Augen eines Mannes, der seine Aufgabe bis
zum letzten Grunde erkannt.
Nach Salzburg von so belebender Begegnung zurückgekehrt, machte ich
mich gleich an die Arbeit. Selbst neugierig, ob er auf meine Verse eingehen
könnte, sandte ich ihm schon nach zwei Wochen den ersten Akt. Sofort
schrieb er mir eine Karte mit einem Meistersingerzitat »der erste Bar gelang«.
Bei dem zweiten Akt kamen als noch herzlicherer Gruß die Anfangstakte
seines Liedes »Ach, daß ich dich gefunden, du liebes Kind!«, und diese seine
Freude, ja sogar Begeisterung machte mir die Weiterarbeit zu einem
unbeschreiblichen Vergnügen. An meinem ganzen Libretto hat Richard
Strauss nicht eine einzige Zeile geändert und nur einmal mich gebeten, um
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286