Page - 276 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 276 -
Text of the Page - 276 -
Strauss vor den Allgewaltigen zitiert, und Hitler teilte ihm in persona mit, daß
er die Aufführung, obwohl sie gegen alle Gesetze des neuen deutschen
Reiches verstoße, ausnahmsweise gestatte, eine Entscheidung, wahrscheinlich
ebenso unwillig und unehrlich gegeben wie die Unterzeichnung des Vertrages
mit Stalin und Molotow.
So brach dieser schwarze Tag für das nationalsozialistische Deutschland
heran, daß noch einmal eine Oper aufgeführt wurde, wo der geächtete Name
Stefan Zweig auf allen Anschlagzetteln paradierte. Ich wohnte
selbstverständlich der Aufführung nicht bei, da ich wußte, daß der
Zuschauerraum von braunen Uniformen strotzen würde und sogar Hitler
selbst zu einer der Aufführungen erwartet wurde. Die Oper errang einen sehr
großen Erfolg und ich muß zu Ehren der Musikkritiker feststellen, daß neun
Zehntel von ihnen die gute Gelegenheit begeistert nutzten, noch einmal, zum
letztenmal ihren inneren Widerstand gegen den Rassenstandpunkt zeigen zu
dürfen, indem sie die denkbar freundlichsten Worte über mein Libretto sagten.
Sämtliche deutschen Theater, Berlin, Hamburg, Frankfurt, München,
kündigten sofort die Aufführung der Oper für die nächste Spielzeit an.
Plötzlich, nach der zweiten Vorstellung, kam ein Blitz aus den hohen
Himmeln. Alles wurde abgesagt, die Oper über Nacht für Dresden und ganz
Deutschland verboten. Und noch mehr: man las erstaunt, daß Richard Strauss
seine Demission als Präsident der Reichsmusikkammer eingereicht habe.
Jeder wußte, daß etwas Besonderes geschehen sein mußte. Aber es dauerte
noch einige Zeit, ehe ich die ganze Wahrheit erfuhr. Strauss hatte wieder
einmal einen Brief an mich geschrieben, in dem er mich drängte, doch bald an
das Libretto einer neuen Oper zu gehen, und in dem er sich mit allzu großer
Freimütigkeit über seine persönliche Einstellung äußerte. Dieser Brief war der
Gestapo in die Hände gefallen. Er wurde Strauss vorgelegt, der daraufhin
sofort seine Demission geben mußte, und die Oper wurde verboten. Sie ist in
deutscher Sprache nur in der freien Schweiz und in Prag in Szene gegangen,
später noch italienisch in der Mailänder Scala mit dem besonderen
Einverständnis Mussolinis, der sich damals dem Rassenstandpunkt noch nicht
unterworfen hatte. Das deutsche Volk aber hat nie mehr einen Ton aus dieser
teilweise bezaubernden Altersoper seines größten lebenden Musikers hören
dürfen.
Während sich diese Angelegenheit unter ziemlichem Getöse vollzog, lebte
ich im Ausland, denn ich spürte, daß die Unruhe in Österreich mir ruhige
Arbeit unmöglich machte. Mein Haus in Salzburg lag so nahe der Grenze, daß
ich mit freiem Auge den Berchtesgadener Berg sehen konnte, auf dem Adolf
Hitlers Haus stand, eine wenig erfreuliche und sehr beunruhigende
276
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286