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Nachbarschaft. Diese Nähe der deutschen Reichsgrenze gab mir allerdings
auch Gelegenheit, besser als meine Freunde in Wien die Bedrohlichkeit der
österreichischen Situation zu beurteilen. Dort betrachteten die in den Cafés
Sitzenden und sogar auch die Leute in den Ministerien den
Nationalsozialismus als eine Angelegenheit, die ›drüben‹ geschah und
Österreich nicht im mindesten berühren konnte. War denn nicht die
sozialdemokratische Partei mit ihrer straffen Organisation zur Stelle, die
beinahe die Hälfte der Bevölkerung geschlossen hinter sich hatte? War nicht
auch die klerikale Partei mit ihr in leidenschaftlicher Abwehr einig, seit
Hitlers ›deutsche Christen‹ das Christentum offen verfolgten und ihren Führer
offen und wörtlich ›größer als Christus‹ nannten? Waren nicht Frankreich,
England, der Völkerbund Österreichs Schirmherren? Hatte nicht Mussolini
ausdrücklich das Protektorat und sogar die Garantie der österreichischen
Unabhängigkeit übernommen? Selbst die Juden sorgten sich nicht und taten,
als ob die Entrechtung der Ärzte, der Rechtsanwälte, der Gelehrten, der
Schauspieler in China vor sich ginge und nicht drei Stunden weit drüben im
gleichen Sprachgebiet. Sie saßen behaglich in ihren Häusern und fuhren in
ihren Automobilen. Außerdem hatte jeder das Trostsprüchlein bereit: »Das
kann nicht lange dauern.« Ich aber erinnerte mich an ein Gespräch, das ich
auf meiner kurzen russischen Reise mit meinem ehemaligen Verleger in
Leningrad gehabt. Er hatte mir erzählt, ein wie reicher Mann er früher
gewesen, was für schöne Bilder er besessen, und ich hatte ihn gefragt, warum
er denn nicht gleich bei Ausbruch der Revolution wie so viele andere
weggegangen sei. »Ach«, hatte er mir geantwortet, »wer konnte denn damals
glauben, eine solche Sache wie eine Räte- und Soldatenrepublik würde länger
als vierzehn Tage dauern?« Es war die gleiche Täuschung aus dem gleichen
Lebenswillen, sich selbst zu täuschen.
In Salzburg freilich, knapp an der Grenze, sah man die Dinge deutlicher. Es
begann ein fortwährendes Hin und Her über den schmalen Grenzfluß, die
jungen Leute schlichen nachts hinüber und wurden einexerziert, die
Agitatoren kamen in Autos oder mit Bergstöcken als schlichte ›Touristen‹
über die Grenze und organisierten in allen Ständen ihre ›Zellen‹. Sie
begannen zu werben und gleichzeitig zu drohen, daß, wer nicht rechtzeitig
sich bekenne, später dafür werde bezahlen müssen. Das schüchterte die
Polizisten, die Staatsbeamten ein. Immer mehr spürte ich an einer gewissen
Unsicherheit im Betragen, wie die Leute zu schwanken begannen. Nun sind
im Leben immer die kleinen persönlichen Erlebnisse die überzeugendsten. Ich
hatte in Salzburg einen Jugendfreund, einen recht bekannten Schriftsteller, mit
dem ich durch dreißig Jahre in innigstem, herzlichstem Verkehr gestanden
hatte. Wir duzten uns, wir hatten uns gegenseitig Bücher gewidmet, wir trafen
uns jede Woche. Eines Tages sah ich nun diesen alten Freund auf der Straße
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286