Page - 278 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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mit einem fremden Herrn und merkte, daß er sofort bei einer ihm ganz
gleichgültigen Auslage stehenblieb und diesem Herrn mit mir zugewendetem
Rücken dort ungemein interessiert etwas zeigte. Sonderbar, dachte ich: er
muß mich doch gesehen haben. Aber das konnte Zufall sein. Am nächsten
Tage telephonierte er mir plötzlich, ob er nachmittags auf einen Plausch zu
mir kommen könne. Ich sagte zu, etwas verwundert, denn sonst trafen wir uns
immer im Kaffeehaus. Es ergab sich, daß er mir nichts Besonderes zu sagen
hatte trotz dieses eiligen Besuchs. Und es war mir sofort klar, daß er einerseits
die Freundschaft mit mir aufrechterhalten, anderseits, um nicht als
Judenfreund verdächtigt zu werden, sich in der kleinen Stadt nicht mehr allzu
intim mit mir zeigen wollte. Das machte mich aufmerksam. Und ich merkte
bald, daß in letzter Zeit eine ganze Reihe von Bekannten, die sonst häufig
kamen, ausgeblieben waren. Man stand auf gefährdetem Posten.
Ich dachte damals noch nicht daran, Salzburg endgültig zu verlassen, aber
ich entschloß mich lieber als sonst, den Winter im Ausland zu verbringen, um
all diesen kleinen Spannungen zu entgehen. Doch ich ahnte nicht, daß es
schon eine Art von Abschied war, als ich im Oktober 1933 mein schönes
Haus verließ.
Meine Absicht war gewesen, den Januar und Februar arbeitend in
Frankreich zu verbringen. Ich liebte dieses schöne geistige Land als eine
zweite Heimat und fühlte mich dort nicht als Ausländer. Valéry, Romain
Rolland, Jules Romains, André Gide, Roger Martin du Gard, Duhamel,
Vildrac, Jean Richard Bloch, die Führer der Literatur, waren alte Freunde.
Meine Bücher hatten beinahe so viele Leser wie in Deutschland, niemand
nahm mich als ausländischen Schriftsteller, als Fremden. Ich liebte das Volk,
ich liebte das Land, ich liebte die Stadt Paris und fühlte mich dort dermaßen
zu Hause, daß jedesmal, wenn der Zug in die Gare du Nord einrollte, ich das
Gefühl hatte, ich käme ›zurück‹. Aber diesmal war ich durch die besonderen
Umstände früher abgereist als sonst und wollte erst nach Weihnachten in Paris
sein. Wohin inzwischen? Da erinnerte ich mich, daß ich eigentlich seit mehr
als einem Vierteljahrhundert, seit meiner Studentenzeit, nicht wieder in
England gewesen war. Warum nur immer Paris, sagte ich mir. Warum nicht
auch einmal zehn oder vierzehn Tage in London, nach Jahren und Jahren
wieder die Museen sehen mit anderem Blick, wieder das Land und die Stadt?
So nahm ich statt des Expreßzugs nach Paris jenen nach Calais und stieg im
vorschriftsmäßigen Nebel eines Novembertags nach dreißig Jahren wieder an
der Victoria-Station aus und wunderte mich bei der Ankunft nur, daß ich nicht
wie damals im Cab zu meinem Hotel fuhr, sondern in einem Auto. Der Nebel,
das kühle, weiche Grau, war wie damals. Noch hatte ich keinen Blick auf die
Stadt getan, aber mein Geruchssinn hatte, über drei Jahrzehnte hinweg, diese
sonderbar herbe, dichte, feuchte, einen von nah umhüllende Luft
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286