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wiedererkannt.
Das Gepäck, das ich mitbrachte, war gering, und ebenso meine
Erwartungen. Freundschaftliche Bindungen besaß ich in London so gut wie
keine; auch literarisch bestand zwischen uns kontinentalen und den
englischen Schriftstellern wenig Kontakt. Sie hatten eine Art eigenen,
abgegrenzten Lebens mit eigenem Wirkungskreis innerhalb ihrer uns nicht
ganz zugänglichen Tradition: ich kann mich nicht erinnern, unter den vielen
Büchern, die aus aller Welt in mein Haus auf meinen Tisch kamen, je das
eines englischen Autors als kollegiale Gabe gefunden zu haben. Shaw war ich
einmal in Hellerau begegnet, Wells war einmal zu Besuch nach Salzburg in
mein Haus gekommen, meine eigenen Bücher wiederum waren zwar alle
übersetzt, aber wenig bekannt; immer war England das Land gewesen, wo sie
die geringste Wirkung geübt. Auch hatte ich, während ich mit meinem
amerikanischen, meinem französischen, meinem italienischen, meinem
russischen Verleger persönlich befreundet war, nie einen Herrn der Firma
gesehen, die meine Bücher in England veröffentlichte. Ich war also darauf
vorbereitet, mich dort ebenso fremd zu fühlen wie vor dreißig Jahren.
Aber es kam anders. Nach einigen Tagen fühlte ich mich in London
unbeschreiblich wohl. Nicht daß sich London wesentlich geändert hätte. Aber
ich selbst hatte mich verändert. Ich war dreißig Jahre älter geworden und nach
den Kriegs- und Nachkriegsjahren der Spannung und Überspannung voll
Sehnsucht, einmal wieder ganz still zu leben und nichts Politisches zu hören.
Selbstverständlich gab es auch in England Parteien, Whigs und Torys, eine
konservative und liberale und Labour Partei, aber deren Diskussionen gingen
mich nichts an. Es gab zweifellos auch in der Literatur Parteiungen und
Strömungen, Streit und verborgene Rivalitäten, aber ich stand hier völlig
außerhalb. Jedoch die eigentliche Wohltat war, daß ich endlich wieder eine
zivile, höfliche, unerregte, haßlose Atmosphäre um mich fühlte. Nichts hatte
mir das Leben in den letzten Jahren dermaßen vergiftet, als immer Haß und
Spannung im Lande, in der Stadt um mich zu fühlen, immer mich wehren zu
müssen, in diese Diskussionen hineingezerrt zu werden. Hier war die
Bevölkerung nicht in gleicher Weise verstört, ein höheres Maß von
Rechtlichkeit und Anständigkeit herrschte hier im öffentlichen Leben als in
unseren durch den großen Betrug der Inflation selbst unmoralisch
gewordenen Ländern. Die Menschen lebten ruhiger, zufriedener und blickten
mehr auf ihren Garten und ihre kleinen Liebhabereien als auf ihren Nachbarn.
Hier konnte man atmen, denken und überlegen. Aber das Eigentliche, was
mich hielt, war eine neue Arbeit.
Das kam so. Es war soeben meine ›Marie Antoinette‹ erschienen, und ich
las die Korrekturbogen meines Erasmusbuches, in dem ich ein geistiges
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286