Page - 280 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Porträt des Humanisten versuchte, der, obwohl klarer den Widersinn der Zeit
verstehend als die professionellen Weltverbesserer, tragischerweise doch nicht
imstande war, mit all seiner Vernunft ihm in den Weg zu treten. Nach
Vollendung dieser verschleierten Selbstdarstellung war es meine Absicht,
einen langgeplanten Roman zu schreiben. Ich hatte genug von Biographien.
Aber da geschah mir gleich am dritten Tage, daß ich im Britischen Museum,
angezogen von meiner alten Leidenschaft für Autographen, die im
öffentlichen Raum ausgestellten Stücke musterte. Darunter war der
handschriftliche Bericht über die Hinrichtung Maria Stuarts. Unwillkürlich
fragte ich mich: wie war das eigentlich mit Maria Stuart? War sie wirklich am
Mord ihres zweiten Gatten beteiligt, war sie es nicht? Da ich abends nichts zu
lesen hatte, kaufte ich ein Buch über sie. Es war ein Hymnus, der sie wie eine
Heilige verteidigte, ein Buch, flach und töricht. In meiner unheilbaren
Neugier schaffte ich mir am nächsten Tage ein anderes an, das ungefähr
genau das Gegenteil behauptete. Nun begann mich der Fall zu interessieren.
Ich fragte nach einem wirklich verläßlichen Buch. Niemand konnte mir eines
nennen, und so suchend und mich erkundigend geriet ich unwillkürlich hinein
ins Vergleichen und hatte, ohne es recht zu wissen, ein Buch über Maria
Stuart begonnen, das mich dann Wochen in den Bibliotheken festhielt. Als ich
Anfang 1934 wieder nach Österreich fuhr, war ich entschlossen, nach dem
mir liebgewordenen London zurückzukehren, um dieses Buch dort in Stille zu
vollenden.
Ich brauchte nicht mehr als zwei oder drei Tage in Österreich, um zu sehen,
wie sich die Situation in diesen wenigen Monaten verschlimmert hatte. Aus
der stillen und sicheren Atmosphäre Englands in dies von Fiebern und
Kämpfen geschüttelte Österreich zu kommen, war, wie wenn man an einem
heißen New Yorker Julitag aus einem luftgekühlten, einem air-conditioned
Raum plötzlich auf die glühende Straße tritt. Die nationalsozialistische
Pression begann den klerikalen und bürgerlichen Kreisen allmählich die
Nerven zu zerstören; immer härter fühlten sie die wirtschaftlichen
Daumschrauben, den subversiven Druck des ungeduldigen Deutschlands. Die
Regierung Dollfuß, die Österreich unabhängig halten und vor Hitler bewahren
wollte, suchte immer verzweifelter nach einer letzten Stütze. Frankreich und
England waren zu abgelegen und auch innerlich zu gleichgültig, die
Tschechoslowakei noch von alter Ranküne und Rivalität gegen Wien erfüllt –
so blieb nur Italien, das damals ein wirtschaftliches und politisches
Protektorat über Österreich anstrebte, um sich die Alpenpässe und Triest zu
schützen. Für diesen Schutz verlangte Mussolini allerdings einen harten Preis.
Österreich sollte den faschistischen Tendenzen angepaßt, das Parlament und
damit die Demokratie erledigt werden. Dies war nun nicht möglich ohne die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286