Page - 282 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 282 -
Text of the Page - 282 -
Ich war nur einige Tage in Salzburg gewesen und bald nach Wien
weitergefahren. Und gerade in diesen ersten Februartagen brach das Gewitter
los. Die Heimwehr hatte in Linz das Haus der Arbeiterschaft überfallen, um
die Waffendepots, die sie dort vermutete, wegzunehmen. Die Arbeiter hatten
mit dem Generalstreik geantwortet, Dollfuß wiederum mit dem Befehl, mit
Waffen diese künstlich erzwungene ›Revolution‹ niederzuschlagen. So rückte
die reguläre Wehrmacht mit Maschinengewehren und Kanonen gegen die
Wiener Arbeiterhäuser an. Drei Tage wurde erbittert gekämpft von Haus zu
Haus; es war das letztemal in Spanien, daß sich in Europa die Demokratie
gegen den Faschismus wehrte. Drei Tage hielten die Arbeiter stand, ehe sie
der technischen Übermacht erlagen.
Ich war in diesen drei Tagen in Wien und somit Zeuge dieses
Entscheidungskampfes und damit des Selbstmords der österreichischen
Unabhängigkeit. Aber da ich ehrlicher Zeuge sein will, muß ich das zunächst
paradox scheinende Faktum bekennen, daß ich von dieser Revolution selbst
nichts das mindeste gesehen habe. Wer sich vorgesetzt hat, ein möglichst
ehrliches und anschauliches Bild seiner Zeit zu geben, muß auch den Mut
haben, romantische Vorstellungen zu enttäuschen. Und nichts scheint mir
charakteristischer für die Technik und Eigenart moderner Revolutionen, als
daß sie sich im Riesenraum einer modernen Großstadt eigentlich nur an ganz
wenigen Stellen abspielen und darum für die meisten Einwohner völlig
unsichtbar bleiben. So sonderbar es scheinen mag: ich war an diesen
historischen Februartagen 1934 in Wien und habe nichts gesehen von diesen
entscheidenden Ereignissen, die sich in Wien abspielten, und nichts, auch
nicht das mindeste davon gewußt, während sie geschahen. Es wurde mit
Kanonen geschossen, es wurden Häuser besetzt, es wurden Hunderte von
Leichen weggetragen – ich habe nicht eine einzige gesehen. Jeder Leser der
Zeitung in New York, in London, in Paris hatte bessere Kenntnis von dem,
was wirklich vor sich ging, als wir, die wir doch scheinbar Zeugen waren.
Und dieses erstaunliche Phänomen, daß man in unserer Zeit zehn Straßen
weit von Entscheidungen weniger weiß als die Menschen in einer Entfernung
von Tausenden Kilometern, habe ich dann später immer und immer wieder
bestätigt gefunden. Als Dollfuß einige Monate später mittags in Wien
ermordet wurde, sah ich um halb sechs Uhr nachmittags in London die
Plakate auf den Straßen. Ich versuchte sofort, nach Wien zu telephonieren; zu
meinem Erstaunen erhielt ich sofort Verbindung und erfuhr zu meinem noch
größeren Erstaunen, daß man in Wien, fünf Straßen vom Auswärtigen Amt,
viel weniger wußte als in London an jeder Straßenecke. Ich kann also an
meinem Wiener Revolutionserlebnis beispielhaft nur das Negative darstellen:
wie wenig heutzutage ein Zeitgenosse, wenn er nicht zufällig an der
entscheidenden Stelle steht, von den Ereignissen sieht, welche das Antlitz der
282
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286