Page - 283 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Welt und sein eigenes Leben verändern. Alles, was ich erlebte, war: ich hatte
abends eine Verabredung mit der Ballettregisseurin der Oper, Margarete
Wallmann, in einem Ringstraßencafe. Ich ging also zu Fuß zur Ringstraße und
wollte sie gedankenlos überschreiten. Da traten plötzlich ein paar Leute in
alten, rasch zusammengerafften Uniformen mit Gewehren auf mich zu und
fragten, wohin ich wollte. Als ich ihnen erklärte, ich wollte in jenes Cafe J.,
ließen sie mich ruhig durch. Ich wußte weder, warum plötzlich solche
Gardisten auf der Straße standen, noch was sie eigentlich bezweckten. In
Wirklichkeit wurde damals schon seit mehreren Stunden erbittert in den
Vorstädten geschossen und gekämpft, aber in der inneren Stadt hatte niemand
eine Ahnung. Erst als ich abends ins Hotel kam und meine Rechnung
bezahlen wollte, weil es meine Absicht war, am nächsten Morgen nach
Salzburg zurückzureisen, sagte mir der Portier, er fürchte, das werde nicht
möglich sein, die Bahnen verkehrten nicht. Es sei Eisenbahnerstreik, und
außerdem gehe in den Vorstädten etwas vor.
Am nächsten Tage brachten die Zeitungen ziemlich undeutliche
Mitteilungen über einen Aufstand der Sozialdemokraten, der aber schon mehr
oder minder niedergeschlagen sei. In Wirklichkeit hatte der Kampf an diesem
Tage erst seine volle Kraft erreicht, und die Regierung entschloß sich, nach
den Maschinengewehren auch Kanonen gegen die Arbeiterhäuser
einzusetzen. Aber auch die Kanonen vernahm ich nicht. Wäre damals ganz
Österreich besetzt worden, sei es von den Sozialisten oder Nationalsozialisten
oder Kommunisten, ich hätte es ebensowenig gewußt wie seinerzeit die Leute
in München, die am Morgen aufwachten und erst aus den ›Münchener
Neuesten Nachrichten‹ erfuhren, daß ihre Stadt in den Händen Hitlers war.
Alles ging im inneren Kreise der Stadt ebenso ruhig und regelmäßig weiter
wie sonst, während in den Vorstädten der Kampf wütete, und wir glaubten
töricht den offiziellen Mitteilungen, daß alles schon beigelegt und erledigt sei.
In der Nationalbibliothek, wo ich etwas nachzusehen hatte, saßen die
Studenten und lasen und studierten wie immer, alle Geschäfte waren offen,
die Menschen gar nicht erregt. Erst am dritten Tag, als alles vorüber war,
erfuhr man stückweise die Wahrheit. Kaum daß die Bahnen wieder
verkehrten, am vierten Tag, fuhr ich morgens nach Salzburg zurück, wo mich
zwei, drei Bekannte, die ich auf der Straße traf, sofort mit Fragen bestürmten,
was eigentlich in Wien geschehen sei. Und ich, der ich doch der
›Augenzeuge‹ der Revolution gewesen, mußte ihnen ehrlich sagen: »Ich weiß
es nicht. Am besten, ihr kauft eine ausländische Zeitung.«
Sonderbarerweise fiel am nächsten Tag im Zusammenhang mit diesen
Ereignissen eine Entscheidung in meinem eigenen Leben. Ich war
nachmittags von Wien in mein Haus nach Salzburg zurückgekommen, hatte
dort Stöße von Korrekturen und Briefen vorgefunden und bis tief in die Nacht
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286