Page - 284 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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gearbeitet, um alle Rückstände zu beseitigen. Am nächsten Morgen, ich lag
noch im Bett, klopfte es an die Tür; unser braver alter Diener, der mich sonst
nie weckte, wenn ich nicht ausdrücklich eine Stunde bestimmt hatte, erschien
mit bestürztem Gesicht. Ich möchte hinunterkommen, es seien Herren von der
Polizei da und wünschten mich zu sprechen. Ich war etwas verwundert, nahm
den Schlafrock und ging in das untere Stockwerk. Dort standen vier Polizisten
in Zivil und eröffneten mir, sie hätten Auftrag, das Haus zu durchsuchen; ich
solle sofort alles abliefern, was an Waffen des Republikanischen
Schutzbundes im Hause verborgen sei.
Ich muß gestehen, daß ich im ersten Augenblick zu verblüfft war, um
irgend etwas zu antworten. Waffen des Republikanischen Schutzbundes in
meinem Hause? Die Sache war zu absurd. Ich hatte nie einer Partei angehört,
mich nie um Politik gekümmert. Ich war viele Monate nicht in Salzburg
gewesen, und abgesehen von all dem wäre es das lächerlichste Ding von der
Welt gewesen, ein Waffendepot gerade in diesem Hause anzulegen, das
außerhalb der Stadt auf einem Berge lag, so daß man jeden, der ein Gewehr
oder eine Waffe trug, unterwegs beobachten konnte. Ich antwortete also nichts
als ein kühles: »Bitte, sehen Sie nach.« Die vier Detektive gingen durch das
Haus, öffneten einige Kästen, klopften an ein paar Wände, aber es war mir
sofort klar an der lässigen Art, wie sie es taten, daß diese Nachschau pro
forma geschah und keiner von ihnen ernstlich an ein Waffendepot in diesem
Hause glaubte. Nach einer halben Stunde erklärten sie die Untersuchung für
beendet und verschwanden.
Warum mich diese Farce damals so sehr erbitterte, bedarf leider bereits
einer aufklärenden historischen Anmerkung. Denn in den letzten Jahrzehnten
hat Europa und die Welt beinahe schon vergessen, welch heilige Sache
vordem persönliches Recht und staatsbürgerliche Freiheit gewesen. Seit 1933
sind Durchsuchungen, willkürliche Verhaftungen, Vermögenskonfiskationen,
Austreibungen von Heim und Land, Deportationen und jede andere denkbare
Form der Erniedrigung beinahe selbstverständliche Angelegenheiten
geworden; ich kenne kaum einen meiner europäischen Freunde, der nicht
derlei erfahren. Aber damals, zu Beginn von 1934, war eine
Hausdurchsuchung in Österreich noch ein ungeheurer Affront. Daß jemand,
der wie ich vollkommen jeder Politik fernstand und seit Jahren nicht einmal
sein Wahlrecht ausgeübt hatte, ausgesucht worden war, mußte einen
besonderen Grund haben, und in der Tat war es eine typisch österreichische
Angelegenheit. Der Polizeipräsident von Salzburg war genötigt gewesen,
scharf gegen die Nationalsozialisten vorzugehen, die mit Bomben und
Explosivstoffen Nacht für Nacht die Bevölkerung beunruhigten, und diese
Überwachung war eine bedenkliche Mutleistung, denn schon damals setzte
die Partei ihre Technik des Terrors ein. Jeden Tag erhielten die Amtsstellen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286