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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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sich ziehen, dann sei er zufrieden und werde als Dank dafür den Bolschewismus ausrotten; dieser Köder wirkte vortrefflich. Hitler brauchte nur einmal das Wort ›Friede‹ auszusprechen in einer Rede, und leidenschaftlich jubelnd vergaßen die Zeitungen alles Begangene und fragten nicht weiter, wozu eigentlich Deutschland so tollwütig rüste. Aus Berlin heimkehrende Touristen, die man dort vorsorglich geführt und umschmeichelt, rühmten die Ordnung und ihren neuen Meister, allmählich begann man in England seine ›Ansprüche‹ auf ein Großdeutschland schon leise als berechtigt zu billigen – niemand begriff, daß Österreich der Stein in der Mauer war, und daß Europa niederbrechen mußte, sobald man ihn heraussprengte. Ich aber empfand die Naivität, die edle Gutgläubigkeit, mit der die Engländer und die Führenden unter ihnen sich betören ließen, mit den brennenden Augen eines, der zu Hause die Gesichter der Sturmtruppen von nahe gesehen und sie singen gehört: »Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt.« Je mehr die politische Spannung sich verschärfte, um so mehr zog ich mich darum von Gesprächen zurück und von jeder öffentlichen Aktion. England ist das einzige Land der alten Welt, in dem ich nie einen Artikel zeitgebundener Art in einer Zeitung veröffentlichte, nie im Radio gesprochen, nie mich an einer öffentlichen Diskussion beteiligt habe; ich habe dort anonymer in meiner kleinen Wohnung gelebt als dreißig Jahre vordem der Student in der seinen in Wien. So habe ich kein Recht, England als gültiger Zeuge zu schildern, um so weniger als ich mir späterhin gestehen mußte, daß ich vor dem Kriege nie wirklich Englands tiefste, ganz in sich verhaltene und nur in der Stunde äußerster Gefahr sich enthüllende Kraft erkannt. Auch von den Schriftstellern sah ich nicht viele. Gerade die beiden, denen ich mich später zu verbinden begonnen hatte, John Drinkwater und Hugh Walpole, nahm der Tod frühzeitig hinweg, den Jüngeren wiederum begegnete ich nicht oft, da ich, aus jenem unselig mich belastenden Unsicherheitsgefühl des ›foreigners‹, Klubs, Diners und öffentliche Veranstaltungen mied. Immerhin hatte ich einmal den besonderen und wirklich unvergeßlichen Genuß, die beiden schärfsten Köpfe, Bernard Shaw und H. G. Wells, in einer unterirdisch geladenen, äußerlich ritterlichen und brillanten Auseinandersetzung zu sehen. Es war bei einem Lunch in engstem Kreise bei Shaw, und ich befand mich in der teilweise anziehenden, teilweise peinlichen Situation eines, der nicht vorher Bescheid darüber wußte, was eigentlich die unterirdische Spannung erregte, die elektrisch zwischen den beiden Patriarchen zu fühlen war, schon an der Art, wie sie einander begrüßten, mit einer von Ironie leicht durchsetzten Vertraulichkeit – es mußte zwischen ihnen eine prinzipielle Meinungsverschiedenheit bestanden haben, die kurz zuvor beigelegt worden war oder durch diesen Lunch beigelegt werden sollte. 288
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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