Page - 289 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Diese beiden großen Gestalten, jede ein Ruhm Englands, hatten vor einem
halben Jahrhundert im Kreise der ›Fabier‹ Schulter an Schulter für den damals
gleichfalls noch jungen Sozialismus gekämpft. Seitdem hatten sie sich gemäß
ihrer sehr bestimmten Persönlichkeiten mehr und mehr voneinander
entwickelt, Wells in seinem aktiven Idealismus beharrend, unermüdlich an
seiner Vision der Menschheitszukunft bauend, Shaw dagegen immer mehr das
Zukünftige wie das Gegenwärtige skeptisch-ironisch betrachtend, um daran
sein überlegen-amüsiertes Denkspiel zu erproben. Auch in der körperlichen
Erscheinung hatten sie sich mit den Jahren immer mehr zu Gegensätzen
geformt. Shaw, der unwahrscheinlich frische Achtzigjährige, der beim Essen
nur Nüsse und Früchte knabberte, hoch, hager, unablässig gespannt, immer
ein scharfes Lachen um die leicht gesprächigen Lippen und mehr noch
verliebt in das Feuerwerk seiner Paradoxe als jemals, Wells, der
lebensfreudige Siebzigjährige, genießerischer, behaglicher als je vordem,
klein, rotbackig und unerbittlich ernst hinter seiner gelegentlichen Heiterkeit.
Shaw blendend in der Aggressivität, rasch und behende die Punkte des
Vorstoßes wechselnd, der andere in taktisch starker Verteidigung,
unerschütterlich wie immer der Gläubige und Überzeugte. Ich hatte gleich
den Eindruck, daß Wells nicht bloß zu einem freundschaftlichen
Lunchgespräch gekommen war, sondern zu einer Art prinzipieller
Auseinandersetzung. Und gerade weil ich nicht über die Hintergründe des
gedanklichen Konflikts informiert war, spürte ich das Atmosphärische um so
stärker. Es flackerte in jeder Geste, jedem Blick, jedem Wort der beiden eine
oft übermütige, aber doch wohl ziemlich ernste Rauflust; es war, wie wenn
zwei Fechter, ehe sie einander scharf angehen, mit kleinen tastenden Stößen
die eigene Wendigkeit ausproben. Die größere Rapidität des Intellekts besaß
Shaw. Es blitzte immer unter seinen buschigen Augenbrauen, wenn er eine
Antwort gab oder parierte, seine Lust am Witz, am Wortspiel, die er in
sechzig Jahren zu einer Virtuosität ohnegleichen vervollkommnet hatte,
steigerte sich zu einer Art Übermut. Sein weißer, buschiger Bart bebte
manchmal von grimmigem leisem Lachen, und den Kopf ein bißchen schief
neigend, schien er immer seinem Pfeil nachzublicken, ob er auch getroffen
habe. Wells mit seinen roten Bäckchen und den ruhigen, verdeckten Augen
hatte mehr Schärfe und Geradheit; auch sein Verstand arbeitete ungemein
rapid, aber er schlug nicht solche schillernden Volten, er stieß lieber locker
und gerade mit einer leichten Selbstverständlichkeit zu. Das ging so scharf
und so rasch blitzend hin und her, Parade und Hieb, Hieb und Parade, immer
scheinbar im Spaßhaften bleibend, daß der Unbeteiligte das Fleuretspiel, das
Funkeln und Aneinandervorbeischlagen nicht genug bewundern konnte. Aber
hinter diesem raschen und ständig auf höchster Ebene geführten Dialog stand
eine Art geistiger Ergrimmtheit, die sich auf englische Art nobel in den
dialektisch urbansten Formen disziplinierte. Es war – und dies machte die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286