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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Diese beiden großen Gestalten, jede ein Ruhm Englands, hatten vor einem halben Jahrhundert im Kreise der ›Fabier‹ Schulter an Schulter für den damals gleichfalls noch jungen Sozialismus gekämpft. Seitdem hatten sie sich gemäß ihrer sehr bestimmten Persönlichkeiten mehr und mehr voneinander entwickelt, Wells in seinem aktiven Idealismus beharrend, unermüdlich an seiner Vision der Menschheitszukunft bauend, Shaw dagegen immer mehr das Zukünftige wie das Gegenwärtige skeptisch-ironisch betrachtend, um daran sein überlegen-amüsiertes Denkspiel zu erproben. Auch in der körperlichen Erscheinung hatten sie sich mit den Jahren immer mehr zu Gegensätzen geformt. Shaw, der unwahrscheinlich frische Achtzigjährige, der beim Essen nur Nüsse und Früchte knabberte, hoch, hager, unablässig gespannt, immer ein scharfes Lachen um die leicht gesprächigen Lippen und mehr noch verliebt in das Feuerwerk seiner Paradoxe als jemals, Wells, der lebensfreudige Siebzigjährige, genießerischer, behaglicher als je vordem, klein, rotbackig und unerbittlich ernst hinter seiner gelegentlichen Heiterkeit. Shaw blendend in der Aggressivität, rasch und behende die Punkte des Vorstoßes wechselnd, der andere in taktisch starker Verteidigung, unerschütterlich wie immer der Gläubige und Überzeugte. Ich hatte gleich den Eindruck, daß Wells nicht bloß zu einem freundschaftlichen Lunchgespräch gekommen war, sondern zu einer Art prinzipieller Auseinandersetzung. Und gerade weil ich nicht über die Hintergründe des gedanklichen Konflikts informiert war, spürte ich das Atmosphärische um so stärker. Es flackerte in jeder Geste, jedem Blick, jedem Wort der beiden eine oft übermütige, aber doch wohl ziemlich ernste Rauflust; es war, wie wenn zwei Fechter, ehe sie einander scharf angehen, mit kleinen tastenden Stößen die eigene Wendigkeit ausproben. Die größere Rapidität des Intellekts besaß Shaw. Es blitzte immer unter seinen buschigen Augenbrauen, wenn er eine Antwort gab oder parierte, seine Lust am Witz, am Wortspiel, die er in sechzig Jahren zu einer Virtuosität ohnegleichen vervollkommnet hatte, steigerte sich zu einer Art Übermut. Sein weißer, buschiger Bart bebte manchmal von grimmigem leisem Lachen, und den Kopf ein bißchen schief neigend, schien er immer seinem Pfeil nachzublicken, ob er auch getroffen habe. Wells mit seinen roten Bäckchen und den ruhigen, verdeckten Augen hatte mehr Schärfe und Geradheit; auch sein Verstand arbeitete ungemein rapid, aber er schlug nicht solche schillernden Volten, er stieß lieber locker und gerade mit einer leichten Selbstverständlichkeit zu. Das ging so scharf und so rasch blitzend hin und her, Parade und Hieb, Hieb und Parade, immer scheinbar im Spaßhaften bleibend, daß der Unbeteiligte das Fleuretspiel, das Funkeln und Aneinandervorbeischlagen nicht genug bewundern konnte. Aber hinter diesem raschen und ständig auf höchster Ebene geführten Dialog stand eine Art geistiger Ergrimmtheit, die sich auf englische Art nobel in den dialektisch urbansten Formen disziplinierte. Es war – und dies machte die 289
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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