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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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wirklichen, den totalen Völkerbund –nicht schuf und nur den andern Teil seines Programms, die Selbständigkeit der kleinen Staaten, verwirklichte, erzeugte man statt Beruhigung ständige Spannung. Denn nichts ist gefährlicher als die Großmannssucht der Kleinen, und das erste der kleinen Staaten, kaum daß sie geschaffen wurden, war, gegeneinander zu intrigieren und sich um winzige Landstriche zu streiten, Polen gegen Tschechen, Ungarn gegen Rumänen, Bulgaren gegen Serben, und als der Schwächste von allen in diesen Rivalitäten stand das winzige Österreich gegen das übermächtige Deutschland. Dieses zerstückelte, verstümmelte Land, dessen Herrscher einst über Europa geschaltet, war, ich muß es immer wiederholen, der Stein in der Mauer. Ich wußte, was alle diese Menschen in der englischenMillionenstadt um mich nicht wahrnehmen konnten, daß mit Österreich die Tschechoslowakei fallen müßte und der Balkan dann Hitler offen zur Beute liegen, daß der Nationalsozialismus mit Wien, dank dessen besonderer Struktur, den Hebel in die harte Hand bekommen würde, mit dem er ganz Europa auflockern und aus den Angeln heben könnte. Nur wir Österreicher wußten, mit welcher von Ressentiment gestachelten Gier es Hitler nach Wien trieb, der Stadt, die ihn im niedersten Elend gesehen und in die er einziehen wollte als Triumphator. Jedesmal darum, wenn ich zu flüchtigem Besuch nach Österreich und dann wieder zurück über die Grenze kam, atmete ich auf: »Diesmal noch nichts und sah zurück, als ob es das letztemal gewesen sei. Ich sah die Katastrophe kommen, unvermeidlich; Hunderte Male am Morgen in all jenen Jahren, während die andern zuversichtlich nach der Zeitung griffen, habe ich mich innerlich vor der Schlagzeile gefürchtet: Finis Austriae. Ach, wie hatte ich mich selbst betrogen, als ich mir vortäuschte, ich hätte mich längst losgelöst von seinem Schicksal! Ich litt von ferne seine langsame und fiebrige Agonie täglich mit – unendlich mehr als meine Freunde im Lande, die sich selber betrogen mit patriotischen Demonstrationen, und deren einer dem andern täglich versicherte: »Frankreich und England können uns nicht fallen lassen. Und vor allem Mussolini wird es nie erlauben.« Sie glaubten an den Völkerbund, an die Friedensverträge wie Kranke an Medizin mit schönen Etiketten. Sie lebten sorglos und glücklich dahin, indes ich, der deutlicher sah, mir das Herz zersorgte. Auch meine letzte Reise nach Österreich war durch nichts anderes begründet als durch einen solchen spontanen Ausbruch innerer Angst vor der immer näher kommenden Katastrophe. Ich war im Herbst 1937 in Wien gewesen, meine alte Mutter zu besuchen, und hatte für längere Zeit dort nichts zu erledigen; nichts Dringliches rief mich hin. An einem Mittag, wenige Wochen später – es muß gegen Ende November gewesen sein – ging ich über Regent Street nach Hause und kaufte mir im Vorübergehen den ›Evening Standard‹. Es war der Tag, an dem Lord Halifax nach Berlin flog, 294
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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