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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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pervertiert –, daß ich nicht erschrak, nicht klagte, als die Nachricht vom Tode meiner alten Mutter kam, die wir in Wien zurückgelassen hatten, sondern daß ich im Gegenteil sogar eine Art Beruhigung empfand, sie vor allen Leiden und Gefahren nun gesichert zu wissen. Vierundachtzig Jahre alt, beinahe völlig ertaubt, hatte sie eine Wohnung in unserem Familienhause inne, durfte somit selbst nach den neuen ›Ariergesetzen‹ vorläufig nicht delogiert werden, und wir hatten gehofft, sie nach einiger Zeit doch auf irgendeine Weise ins Ausland bringen zu können. Gleich eine der ersten Wiener Verfügungen hatte sie hart getroffen. Sie war mit ihren vierundachtzig Jahren schon schwach auf den Beinen und gewohnt, wenn sie ihren täglichen kleinen Spaziergang machte, immer nach fünf oder zehn Minuten mühseligen Gehens auf einer Bank an der Ringstraße oder im Park auszuruhen. Noch war Hitler nicht acht Tage Herr der Stadt, so kam schon das viehische Gebot, Juden dürften sich nicht auf eine Bank setzen – eines jener Verbote, die sichtlich ausschließlich zu dem sadistischen Zweck des hämischen Quälens ersonnen waren. Denn Juden zu berauben, das hatte immerhin noch Logik und verständlichen Sinn, weil man mit dem Raubertrag der Fabriken, der Wohnungseinrichtungen, der Villen und mit den freigewordenen Stellen die eigenen Leute füttern, die alten Trabanten belohnen konnte; schließlich dankt die Bildergalerie Görings ihre Pracht hauptsächlich dieser großzügig geübten Praxis. Aber einer alten Frau oder einem erschöpften Greis zu verweigern, auf einer Bank für ein paar Minuten Atem zu holen, dies war dem zwanzigsten Jahrhundert und dem Manne vorbehalten, den Millionen als den Größten dieser Zeit anbeten. Glücklicherweise blieb es meiner Mutter erspart, derlei Roheiten und Erniedrigungen lange mitzumachen. Sie starb wenige Monate nach der Besetzung Wiens, und ich kann nicht umhin, eine Episode festzuhalten, die mit ihrem Tode verbunden war; gerade daß solche Einzelheiten vermerkt werden, scheint mir wichtig für eine kommende Zeit, der derartige Dinge als unmöglich gelten müssen. Die vierundachtzigjährige Frau war morgens plötzlich bewußtlos geworden. Der herbeigerufene Arzt erklärte sofort, daß sie die Nacht kaum überleben würde und bestellte eine Wärterin, eine etwa vierzigjährige Frau, an ihr Sterbebett. Nun waren weder mein Bruder noch ich, ihre einzigen Kinder, zur Stelle und konnten natürlich nicht kommen, da auch Rückkehr an das Sterbebett einer Mutter den Vertretern der deutschen Kultur als ein Verbrechen gegolten hätte. So übernahm es ein Vetter von uns, den Abend in der Wohnung zu verbringen, damit wenigstens einer von der Familie bei ihrem Tode anwesend wäre. Dieser unser Vetter war damals ein Mann von sechzig Jahren, selbst nicht mehr gesund, und er ist tatsächlich auch ein Jahr später gestorben. Als er eben Vorbereitungen traf, im Nebenzimmer sein Bett für die Nacht aufzuschlagen, erschien – zu ihrer Ehre gesagt, ziemlich beschämt – die Pflegerin und erklärte, es sei ihr leider nach 298
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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