Page - 298 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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pervertiert –, daß ich nicht erschrak, nicht klagte, als die Nachricht vom Tode
meiner alten Mutter kam, die wir in Wien zurückgelassen hatten, sondern daß
ich im Gegenteil sogar eine Art Beruhigung empfand, sie vor allen Leiden
und Gefahren nun gesichert zu wissen. Vierundachtzig Jahre alt, beinahe
völlig ertaubt, hatte sie eine Wohnung in unserem Familienhause inne, durfte
somit selbst nach den neuen ›Ariergesetzen‹ vorläufig nicht delogiert werden,
und wir hatten gehofft, sie nach einiger Zeit doch auf irgendeine Weise ins
Ausland bringen zu können. Gleich eine der ersten Wiener Verfügungen hatte
sie hart getroffen. Sie war mit ihren vierundachtzig Jahren schon schwach auf
den Beinen und gewohnt, wenn sie ihren täglichen kleinen Spaziergang
machte, immer nach fünf oder zehn Minuten mühseligen Gehens auf einer
Bank an der Ringstraße oder im Park auszuruhen. Noch war Hitler nicht acht
Tage Herr der Stadt, so kam schon das viehische Gebot, Juden dürften sich
nicht auf eine Bank setzen – eines jener Verbote, die sichtlich ausschließlich
zu dem sadistischen Zweck des hämischen Quälens ersonnen waren. Denn
Juden zu berauben, das hatte immerhin noch Logik und verständlichen Sinn,
weil man mit dem Raubertrag der Fabriken, der Wohnungseinrichtungen, der
Villen und mit den freigewordenen Stellen die eigenen Leute füttern, die alten
Trabanten belohnen konnte; schließlich dankt die Bildergalerie Görings ihre
Pracht hauptsächlich dieser großzügig geübten Praxis. Aber einer alten Frau
oder einem erschöpften Greis zu verweigern, auf einer Bank für ein paar
Minuten Atem zu holen, dies war dem zwanzigsten Jahrhundert und dem
Manne vorbehalten, den Millionen als den Größten dieser Zeit anbeten.
Glücklicherweise blieb es meiner Mutter erspart, derlei Roheiten und
Erniedrigungen lange mitzumachen. Sie starb wenige Monate nach der
Besetzung Wiens, und ich kann nicht umhin, eine Episode festzuhalten, die
mit ihrem Tode verbunden war; gerade daß solche Einzelheiten vermerkt
werden, scheint mir wichtig für eine kommende Zeit, der derartige Dinge als
unmöglich gelten müssen. Die vierundachtzigjährige Frau war morgens
plötzlich bewußtlos geworden. Der herbeigerufene Arzt erklärte sofort, daß
sie die Nacht kaum überleben würde und bestellte eine Wärterin, eine etwa
vierzigjährige Frau, an ihr Sterbebett. Nun waren weder mein Bruder noch
ich, ihre einzigen Kinder, zur Stelle und konnten natürlich nicht kommen, da
auch Rückkehr an das Sterbebett einer Mutter den Vertretern der deutschen
Kultur als ein Verbrechen gegolten hätte. So übernahm es ein Vetter von uns,
den Abend in der Wohnung zu verbringen, damit wenigstens einer von der
Familie bei ihrem Tode anwesend wäre. Dieser unser Vetter war damals ein
Mann von sechzig Jahren, selbst nicht mehr gesund, und er ist tatsächlich
auch ein Jahr später gestorben. Als er eben Vorbereitungen traf, im
Nebenzimmer sein Bett für die Nacht aufzuschlagen, erschien – zu ihrer Ehre
gesagt, ziemlich beschämt – die Pflegerin und erklärte, es sei ihr leider nach
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286