Page - 301 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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›Kleinigkeiten‹ hat unsere Generation unwiederbringlich kostbare Zeit sinnlos
vertan. Wenn ich zusammenrechne, wie viele Formulare ich ausgefüllt habe in
diesen Jahren, Erklärungen bei jeder Reise, Steuererklärungen,
Devisenbescheinigungen, Grenzüberschreitungen, Aufenthaltsbewilligungen,
Ausreisebewilligungen, Anmeldungen und Abmeldungen, wie viele Stunden
ich gestanden in Vorzimmern von Konsulaten und Behörden, vor wie vielen
Beamten ich gesessen habe, freundlichen und unfreundlichen, gelangweilten
und überhetzten, wie viele Durchsuchungen an Grenzen und Befragungen ich
mitgemacht, dann empfinde ich erst, wieviel von der Menschenwürde
verlorengegangen ist in diesem Jahrhundert, das wir als junge Menschen
gläubig geträumt als eines der Freiheit, als die kommende Ära des
Weltbürgertums. Wieviel ist unserer Produktion, unserem Schaffen, unserem
Denken durch diese unproduktive und gleichzeitig die Seele
erniedrigende Quengelei genommen worden! Denn jeder von uns hat in
diesen Jahren mehr amtliche Verordnungen studiert als geistige Bücher, der
erste Weg in einer fremden Stadt, in einem fremden Land ging nicht mehr wie
einstens zu den Museen, zu den Landschaften, sondern auf ein Konsulat, eine
Polizeistube, sich eine ›Erlaubnis‹ zu holen. Wenn wir beisammensaßen,
dieselben, die früher Gedichte Baudelaires gesprochen und mit geistiger
Leidenschaft Probleme erörtert, ertappten wir uns, daß wir über Affidavits
und Permits redeten, und ob man ein Dauervisum beantragen solle oder ein
Touristenvisum; eine kleine Beamtin bei einem Konsulat zu kennen, die
einem das Warten abkürzte, war im letzten Jahrzehnt lebenswichtiger als die
Freundschaft eines Toscanini oder eines Rolland. Ständig sollte man fühlen,
mit freigeborener Seele, daß man Objekt und nicht Subjekt, nichts unser
Recht und alles nur behördliche Gnade war. Ständig wurde man vernommen,
registriert, numeriert, perlustriert, gestempelt, und noch heute empfinde ich
als unbelehrbarer Mensch einer freieren Zeit und Bürger einer geträumten
Weltrepublik jeden dieser Stempel in meinem Paß wie eine Brandmarkung,
jede dieser Fragen und Durchsuchungen wie eine Erniedrigung. Es sind
Kleinigkeiten, immer nur Kleinigkeiten, ich weiß es, Kleinigkeiten in einer
Zeit, wo der Wert des Menschenlebens noch rapider gestürzt ist als jener der
Währungen. Aber nur, wenn man diese kleinen Symptome festhält, wird eine
spätere Zeit den richtigen klinischen Befund der geistigen Verhältnisse und
der geistigen Verstörung aufzeichnen können, die unsere Welt zwischen den
beiden Weltkriegen ergriffen hat.
Vielleicht war ich von vordem zu sehr verwöhnt gewesen. Vielleicht wurde
auch meine Empfindlichkeit durch die schroffen Umschaltungen der letzten
Jahre allmählich überreizt. Jede Form von Emigration verursacht an sich
schon unvermeidlicherweise eine Art von Gleichgewichtsstörung. Man
verliert – auch dies muß erlebt sein, um verstanden zu werden – von seiner
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286