Page - 302 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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geraden Haltung, wenn man nicht die eigene Erde unter sich hat, man wird
unsicherer, gegen sich selbst mißtrauischer. Und ich zögere nicht zu
bekennen, daß seit dem Tage, da ich mit eigentlich fremden Papieren oder
Pässen leben mußte, ich mich nie mehr ganz als mit mir zusammengehörig
empfand. Etwas von der natürlichen Identität mit meinem ursprünglichen und
eigentlichen Ich blieb für immer zerstört. Ich bin zurückhaltender geworden,
als meiner Natur eigentlich gemäß wäre und habe – ich, der einstige
Kosmopolit – heute unablässig das Gefühl, als müßte ich jetzt für jeden
Atemzug Luft besonders danken, den ich einem fremden Volke wegtrinke.
Mit klarem Denken weiß ich natürlich um die Absurdität dieser Schrullen,
aber wann vermag Vernunft etwas wider das eigene Gefühl! Es hat mir nicht
geholfen, daß ich fast durch ein halbes Jahrhundert mein Herz erzogen,
weltbürgerlich als das eines ›citoyen du monde‹ zu schlagen. Nein, am Tage,
da ich meinen Paß verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, daß man
mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.
Aber ich war nicht allein mit diesem Gefühl der Unsicherheit. Allmählich
begann sich Beunruhigung über ganz Europa zu verbreiten. Der politische
Horizont blieb verdunkelt seit dem Tage, da Hitler Österreich überfallen, und
dieselben in England, die ihm heimlich den Weg gebahnt in der Hoffnung,
ihrem eigenen Lande damit den Frieden zu erkaufen, begannen jetzt
nachdenklich zu werden. Es gab von 1938 an in London, in Paris, in Rom, in
Brüssel, in allen Städten und Dörfern kein Gespräch mehr, das, so abseitig
sein Gegenstand auch vorerst sein mochte, nicht schließlich in die
unvermeidliche Frage mündete, ob und wie der Krieg noch vermieden oder
zum mindesten hinausgeschoben werden könnte. Blicke ich auf all diese
Monate der ständigen und steigenden Kriegsangst in Europa zurück, so
erinnere ich mich im ganzen nur zweier oder dreier Tage wirklicher
Zuversicht, zweier oder dreier Tage, wo man noch einmal, das letztemal, das
Gefühl hatte, die Wolke würde vorüberziehen, und man würde wieder
friedlich und frei atmen können wie einst. Perverserweise waren diese zwei
oder drei Tage gerade diejenigen, die heute als die verhängnisvollsten der
neueren Geschichte verzeichnet sind: die Tage der Zusammenkunft
Chamberlains und Hitlers in München.
Ich weiß, daß man heute ungern an diese Zusammenkunft erinnert wird, in
der Chamberlain und Daladier, ohnmächtig an die Wand gedrückt, vor Hitler
und Mussolini kapitulierten. Aber da ich hier der dokumentarischen Wahrheit
dienen will, muß ich bekennen, daß jeder, der diese drei Tage in England
miterlebt, sie damals als wunderbar empfand. Die Situation war verzweifelt in
jenen letzten Tagen des September 1938. Chamberlain kam eben von seinem
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286