Page - 303 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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zweiten Fluge zu Hitler zurück, und einige Tage später wußte man, was
geschehen war. Chamberlain war gekommen, um in Godesberg Hitler restlos
zu bewilligen, was Hitler zuvor in Berchtesgaden von ihm verlangt. Aber was
Hitler vor wenigen Wochen als zureichend empfunden, genügte nun seiner
Machthysterie nicht mehr. Die Politik des appeasement und des ›try and try
again‹ war jämmerlich gescheitert, die Epoche der Gutgläubigkeit in England
über Nacht zu Ende. England, Frankreich, die Tschechoslowakei, Europa
hatten nur die Wahl, sich vor Hitlers peremptorischem Machtwillen zu
demütigen oder sich ihm mit der Waffe in den Weg zu stellen. England schien
zum Äußersten entschlossen. Man verschwieg die Rüstungen nicht länger,
sondern zeigte sie offen und demonstrativ. Plötzlich erschienen Arbeiter und
warfen mitten in den Gärten Londons, im Hyde Park, im Regent’s Park und
insbesondere gegenüber der Deutschen Botschaft Unterstände auf für die
drohenden Bombenangriffe. Die Flotte wurde mobilisiert, die
Generalstabsoffiziere flogen ständig zwischen Paris und London hin und her,
um die letzten Maßnahmen gemeinsam zu treffen, die Schiffe nach Amerika
wurden von den Ausländern gestürmt, die sich rechtzeitig in Sicherheit
bringen wollten; seit 1914 war kein solches Erwachen über England
gekommen. Die Menschen gingen ernster und nachdenklicher. Man sah die
Häuser an und die überfüllten Straßen mit dem geheimen Gedanken: werden
nicht morgen schon die Bomben auf sie niederschmettern? Und hinter den
Türen standen und saßen die Menschen zur Nachrichtenstunde um das Radio.
Unsichtbar und doch fühlbar in jedem Menschen und in jeder Sekunde lag
eine ungeheure Spannung über dem ganzen Land.
Dann kam jene historische Sitzung des Parlaments, wo Chamberlain
berichtete, er habe noch einmal versucht, mit Hitler zu einer Einigung zu
gelangen, noch einmal, zum drittenmal ihm den Vorschlag gemacht, ihn in
Deutschland an jedem beliebigen Orte aufzusuchen, um den schwer
bedrohten Frieden zu retten. Die Antwort auf seinen Vorschlag sei noch nicht
eingelangt. Dann kam mitten in der Sitzung – allzu dramatisch gestellt – jene
Depesche, die Hitlers und Mussolinis Zustimmung zu einer gemeinsamen
Konferenz in München meldete, und in dieser Sekunde verlor – ein fast
einmaliger Fall in der Geschichte Englands – das englische Parlament seine
Nerven. Die Abgeordneten sprangen auf, schrien und applaudierten, die
Galerien dröhnten vor Jubel. Seit Jahren und Jahren hatte das ehrwürdige
Haus nicht so gebebt von einem Ausbruch der Freude, wie in diesem
Augenblick. Menschlich war es ein wunderbares Schauspiel, wie der ehrliche
Enthusiasmus darüber, daß der Friede noch gerettet werden könne, die von
den Engländern sonst so virtuos geübte Haltung und Zurückhaltung
überwand. Aber politisch stellte dieser Ausbruch einen ungeheuren Fehler
dar, denn mit seinem wilden Jubel hatte das Parlament, hatte das Land
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286