Page - 307 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 307 -
Text of the Page - 307 -
quälenden Scharfsichtigkeit das Unvermeidliche deutlicher vorauszusehen,
nur daß ich hier als Fremder, als geduldeter Gast nicht warnen durfte.
So hatten wir vom Schicksal schon mit dem Brandmal Gezeichneten nur
uns allein, wenn der bittere Vorgeschmack des Kommenden uns die Lippe
ätzte, und wie haben wir uns die Seele zerquält mit der Sorge um das Land,
das uns brüderlich aufgenommen! Daß aber selbst in der dunkelsten Zeit ein
Gespräch mit einem geistigen Mann höchsten moralischen Maßes
unermeßliche Tröstung und seelische Bestärkung zu gewähren vermag, haben
mir in unvergeßlicher Weise die freundschaftlichen Stunden erwiesen, die ich
in jenen letzten Monaten vor der Katastrophe mit Sigmund Freud verbringen
durfte. Monatelang hatte der Gedanke, daß der dreiundachtzigjährige kranke
Mann im Wien Hitlers zurückgeblieben war, auf mir gelastet, bis es endlich
der wunderbaren Prinzessin Maria Bonaparte, seiner getreuesten Schülerin,
gelang, diesen wichtigsten Menschen, der im geknechteten Wien lebte, von
dort nach London zu retten. Es war ein großer Glückstag in meinem Leben,
als ich in der Zeitung las, daß er die Insel betreten und ich den verehrtesten
meiner Freunde, den ich schon verloren geglaubt, aus dem Hades noch einmal
wiederkehren sah.
Ich hatte Sigmund Freud, diesen großen und strengen Geist, der wie kein
anderer in unserer Epoche das Wissen um die menschliche Seele vertieft und
erweitert, in Wien noch zu jenen Zeiten gekannt, da er dort als eigensinniger
und peinlicher Eigenbrötler gewertet und befeindet wurde. Ein Fanatiker der
Wahrheit, aber zugleich der Begrenztheit jeder Wahrheit genau sich bewußt –
er sagte mir einmal: »Es gibt ebensowenig eine hundertprozentige Wahrheit
wie hundertprozentigen Alkohol!« – hatte er sich der Universität und ihren
akademischen Vorsichtigkeiten entfremdet durch die unerschütterliche Art,
mit der er sich vorwagte in bisher unbetretene und ängstlich gemiedene Zonen
der irdisch-unterirdischen Triebwelt, also gerade jene Sphäre, über die jene
Zeit das ›Tabu‹ feierlich ausgesprochen. Unbewußt spürte die optimistisch-
liberale Welt, daß dieser unkompromißlerische Geist ihre These von der
allmählichen Unterdrückung der Triebe durch die ›Vernunft‹ und den
›Fortschritt‹ mit seiner Tiefenpsychologie unerbittlich unterhöhlte, daß er
ihrer Methodik der Ignorierung des Unbequemen gefährlich war durch seine
mitleidslose Technik der Entschleierung. Es war aber nicht die Universität
allein, nicht nur der Klüngel der altmodischen Nervenärzte, die sich
gemeinsam wehrten gegen diesen unbequemen ›Außenseiter‹ – es war die
ganze Welt, die ganze alte Welt, die alte Denkart, die moralische
›Konvention‹, es war die ganze Epoche, die in ihm den Entschleierer
fürchtete. Langsam bildete sich ein ärztlicher Boykott gegen ihn, er verlor
307
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286