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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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quälenden Scharfsichtigkeit das Unvermeidliche deutlicher vorauszusehen, nur daß ich hier als Fremder, als geduldeter Gast nicht warnen durfte. So hatten wir vom Schicksal schon mit dem Brandmal Gezeichneten nur uns allein, wenn der bittere Vorgeschmack des Kommenden uns die Lippe ätzte, und wie haben wir uns die Seele zerquält mit der Sorge um das Land, das uns brüderlich aufgenommen! Daß aber selbst in der dunkelsten Zeit ein Gespräch mit einem geistigen Mann höchsten moralischen Maßes unermeßliche Tröstung und seelische Bestärkung zu gewähren vermag, haben mir in unvergeßlicher Weise die freundschaftlichen Stunden erwiesen, die ich in jenen letzten Monaten vor der Katastrophe mit Sigmund Freud verbringen durfte. Monatelang hatte der Gedanke, daß der dreiundachtzigjährige kranke Mann im Wien Hitlers zurückgeblieben war, auf mir gelastet, bis es endlich der wunderbaren Prinzessin Maria Bonaparte, seiner getreuesten Schülerin, gelang, diesen wichtigsten Menschen, der im geknechteten Wien lebte, von dort nach London zu retten. Es war ein großer Glückstag in meinem Leben, als ich in der Zeitung las, daß er die Insel betreten und ich den verehrtesten meiner Freunde, den ich schon verloren geglaubt, aus dem Hades noch einmal wiederkehren sah. Ich hatte Sigmund Freud, diesen großen und strengen Geist, der wie kein anderer in unserer Epoche das Wissen um die menschliche Seele vertieft und erweitert, in Wien noch zu jenen Zeiten gekannt, da er dort als eigensinniger und peinlicher Eigenbrötler gewertet und befeindet wurde. Ein Fanatiker der Wahrheit, aber zugleich der Begrenztheit jeder Wahrheit genau sich bewußt – er sagte mir einmal: »Es gibt ebensowenig eine hundertprozentige Wahrheit wie hundertprozentigen Alkohol!« – hatte er sich der Universität und ihren akademischen Vorsichtigkeiten entfremdet durch die unerschütterliche Art, mit der er sich vorwagte in bisher unbetretene und ängstlich gemiedene Zonen der irdisch-unterirdischen Triebwelt, also gerade jene Sphäre, über die jene Zeit das ›Tabu‹ feierlich ausgesprochen. Unbewußt spürte die optimistisch- liberale Welt, daß dieser unkompromißlerische Geist ihre These von der allmählichen Unterdrückung der Triebe durch die ›Vernunft‹ und den ›Fortschritt‹ mit seiner Tiefenpsychologie unerbittlich unterhöhlte, daß er ihrer Methodik der Ignorierung des Unbequemen gefährlich war durch seine mitleidslose Technik der Entschleierung. Es war aber nicht die Universität allein, nicht nur der Klüngel der altmodischen Nervenärzte, die sich gemeinsam wehrten gegen diesen unbequemen ›Außenseiter‹ – es war die ganze Welt, die ganze alte Welt, die alte Denkart, die moralische ›Konvention‹, es war die ganze Epoche, die in ihm den Entschleierer fürchtete. Langsam bildete sich ein ärztlicher Boykott gegen ihn, er verlor 307
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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