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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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ägyptischen Statuetten, die ihm Maria Bonaparte gerettet. »Bin ich nicht wieder zu Hause?« Und auf dem Schreibtisch lagen aufgeschlagen die großen Folioseiten seines Manuskripts, und er schrieb, dreiundachtzigjährig, mit derselben runden klaren Schrift jeden Tag, gleich hell im Geiste wie in seinen besten Tagen und gleich unermüdlich; sein starker Wille hatte alles überwunden, die Krankheit, das Alter, das Exil, und zum erstenmal strömte jetzt die in den langen Jahren des Kampfes zurückgestaute Güte seines Wesens frei von ihm aus. Nur milder hatte ihn das Alter gemacht, nur nachsichtiger die überstandene Prüfung. Manchmal fand er jetzt zärtliche Gesten, die ich vordem nie an dem Zurückhaltenden gekannt; er legte einem den Arm um die Schulter, und hinter der blitzenden Brille blickte wärmer das Auge einen an. Immer hatte in all den Jahren ein Gespräch mit Freud für mich zu den höchsten geistigen Genüssen gehört. Man lernte und bewunderte zugleich, man fühlte sich mit jedem Wort verstanden von diesem großartig Vorurteilslosen, den kein Geständnis erschreckte, keine Behauptung erregte, und für den der Wille, andere zum Klarsehen, zum Klarfühlen zu erziehen, längst instinktiver Lebenswille geworden war. Aber niemals habe ich das Unersetzbare dieser langen Gespräche dankbarer empfunden als in jenem dunklen Jahr, dem letzten seines Lebens. Im Augenblick, da man in sein Zimmer trat, war der Wahnsinn der äußeren Welt gleichsam abgetan. Das Grausamste wurde abstrakt, das Verworrenste klar, das Zeitlich-Aktuelle ordnete sich demütig ein in die großen zyklischen Phasen. Zum erstenmal erlebte ich den wahrhaft Weisen, den über sich selbst erhobenen, der auch Schmerz und Tod nicht mehr als persönliches Erlebnis empfindet, sondern als ein überpersönliches Objekt der Betrachtung, der Beobachtung: sein Sterben war nicht minder eine moralische Großtat als sein Leben. Freud litt damals schon schwer an der Krankheit, die ihn uns bald nehmen sollte. Es machte ihm sichtlich Mühe, mit seiner Gaumenplatte zu sprechen, und man war eigentlich beschämt über jedes Wort, das er einem gewährte, weil das Artikulieren ihm Anstrengung verursachte. Aber er ließ einen nicht; es bedeutete besonderen Ehrgeiz für seine stählerne Seele, den Freunden zu zeigen, daß sein Wille noch stärker geblieben als die niederen Quälereien, die ihm sein Körper schuf. Den Mund verzerrt von Schmerz, schrieb er an seinem Schreibtisch bis zu den letzten Tagen, und selbst wenn ihm nachts das Leiden den Schlaf – seinen herrlich festen, gesunden Schlaf, der achtzig Jahre die Urquelle seiner Kraft gewesen – zermarterte, verweigerte er Schlafmittel und jede betäubende Injektion. Nicht für eine einzige Stunde wollte er die Helligkeit seines Geistes durch solche Linderungen abdämpfen lassen; lieber leiden und wachsam bleiben, lieber unter Qualen denken als nicht denken, Heros des Geistes bis zum letzten, allerletzten Augenblick. Es war ein furchtbarer Kampf und immer großartiger, je länger er dauerte. Von einem zum andern Male warf der Tod seinen Schatten deutlicher über sein Antlitz. 309
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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