Page - 309 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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ägyptischen Statuetten, die ihm Maria Bonaparte gerettet. »Bin ich nicht
wieder zu Hause?« Und auf dem Schreibtisch lagen aufgeschlagen die großen
Folioseiten seines Manuskripts, und er schrieb, dreiundachtzigjährig, mit
derselben runden klaren Schrift jeden Tag, gleich hell im Geiste wie in seinen
besten Tagen und gleich unermüdlich; sein starker Wille hatte alles
überwunden, die Krankheit, das Alter, das Exil, und zum erstenmal strömte
jetzt die in den langen Jahren des Kampfes zurückgestaute Güte seines
Wesens frei von ihm aus. Nur milder hatte ihn das Alter gemacht, nur
nachsichtiger die überstandene Prüfung. Manchmal fand er jetzt zärtliche
Gesten, die ich vordem nie an dem Zurückhaltenden gekannt; er legte einem
den Arm um die Schulter, und hinter der blitzenden Brille blickte wärmer das
Auge einen an. Immer hatte in all den Jahren ein Gespräch mit Freud für mich
zu den höchsten geistigen Genüssen gehört. Man lernte und bewunderte
zugleich, man fühlte sich mit jedem Wort verstanden von diesem großartig
Vorurteilslosen, den kein Geständnis erschreckte, keine Behauptung erregte,
und für den der Wille, andere zum Klarsehen, zum Klarfühlen zu erziehen,
längst instinktiver Lebenswille geworden war. Aber niemals habe ich das
Unersetzbare dieser langen Gespräche dankbarer empfunden als in jenem
dunklen Jahr, dem letzten seines Lebens. Im Augenblick, da man in sein
Zimmer trat, war der Wahnsinn der äußeren Welt gleichsam abgetan. Das
Grausamste wurde abstrakt, das Verworrenste klar, das Zeitlich-Aktuelle
ordnete sich demütig ein in die großen zyklischen Phasen. Zum erstenmal
erlebte ich den wahrhaft Weisen, den über sich selbst erhobenen, der auch
Schmerz und Tod nicht mehr als persönliches Erlebnis empfindet, sondern als
ein überpersönliches Objekt der Betrachtung, der Beobachtung: sein Sterben
war nicht minder eine moralische Großtat als sein Leben. Freud litt damals
schon schwer an der Krankheit, die ihn uns bald nehmen sollte. Es machte
ihm sichtlich Mühe, mit seiner Gaumenplatte zu sprechen, und man war
eigentlich beschämt über jedes Wort, das er einem gewährte, weil das
Artikulieren ihm Anstrengung verursachte. Aber er ließ einen nicht; es
bedeutete besonderen Ehrgeiz für seine stählerne Seele, den Freunden zu
zeigen, daß sein Wille noch stärker geblieben als die niederen Quälereien, die
ihm sein Körper schuf. Den Mund verzerrt von Schmerz, schrieb er an seinem
Schreibtisch bis zu den letzten Tagen, und selbst wenn ihm nachts das Leiden
den Schlaf – seinen herrlich festen, gesunden Schlaf, der achtzig Jahre die
Urquelle seiner Kraft gewesen – zermarterte, verweigerte er Schlafmittel und
jede betäubende Injektion. Nicht für eine einzige Stunde wollte er die
Helligkeit seines Geistes durch solche Linderungen abdämpfen lassen; lieber
leiden und wachsam bleiben, lieber unter Qualen denken als nicht denken,
Heros des Geistes bis zum letzten, allerletzten Augenblick. Es war ein
furchtbarer Kampf und immer großartiger, je länger er dauerte. Von einem
zum andern Male warf der Tod seinen Schatten deutlicher über sein Antlitz.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286