Page - 313 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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büßten sie für die Schuld, sich bewußt selbst abgesondert zu haben durch ihre
Religion, durch ihre Gebräuche von den anderen Völkern der Erde. Die Juden
des zwanzigsten Jahrhunderts aber waren längst keine Gemeinschaft mehr.
Sie hatten keinen gemeinsamen Glauben, sie empfanden ihr Judesein eher als
Last denn als Stolz und waren sich keiner Sendung bewußt. Abseits lebten sie
von den Geboten ihrer einstmals heiligen Bücher, und sie wollten die alte, die
gemeinsame Sprache nicht mehr. Sich einzuleben, sich einzugliedern in die
Völker um sie, sich aufzulösen ins Allgemeine, war ihr immer ungeduldigeres
Streben, um nur Frieden zu haben vor aller Verfolgung, Rast auf der ewigen
Flucht. So verstanden die einen die andern nicht mehr, eingeschmolzen wie
sie waren in die andern Völker, Franzosen, Deutsche, Engländer, Russen
längst mehr als Juden. Jetzt erst, da man sie alle zusammenwarf und wie
Schmutz auf den Straßen zusammenkehrte, die Bankdirektoren aus ihren
Berliner Palais und die Synagogendiener aus den orthodoxen Gemeinden, die
Pariser Philosophieprofessoren und die rumänischen Droschkenkutscher, die
Leichenwäscher und Nobelpreisträger, die Konzertsängerinnen und die
Klageweiber der Begräbnisse, die Schriftsteller und die Branntweinbrenner,
die Besitzenden und die Besitzlosen, die Großen und die Kleinen, die
Frommen und die Aufgeklärten, die Wucherer und die Weisen, die Zionisten
und die Assimilierten, die Aschkenasim und die Sephardim, die Gerechten
und die Ungerechten, und hinter ihnen noch die verstörte Schar derer, die
längst dem Fluche entflüchtet zu sein glauben, die Getauften und die
Gemischten – jetzt erst zwang man den Juden zum erstenmal seit Hunderten
Jahren wieder eine Gemeinsamkeit auf, die sie längst nicht mehr empfunden,
die seit Ägypten immer wiederkehrende Gemeinsamkeit der Austreibung.
Aber warum dies Schicksal ihnen und immer wieder ihnen allein? Was war
der Grund, was der Sinn, was das Ziel dieser sinnlosen Verfolgung? Man trieb
sie aus den Ländern und gab ihnen kein Land. Man sagte: lebt nicht mit uns,
aber man sagte ihnen nicht, wo sie leben sollten. Man gab ihnen Schuld und
verweigerte ihnen jedes Mittel, sie zu sühnen. Und so starrten sie sich an auf
der Flucht mit brennenden Augen – warum ich? Warum du? Warum ich mit
dir, den ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Denkweise
ich nicht fasse, mit dem nichts mich verbindet? Warum wir alle? Und keiner
wußte Antwort. Selbst Freud, das klarste Ingenium dieser Zeit, mit dem ich
oft in jenen Tagen sprach, wußte keinen Weg, keinen Sinn in diesem
Widersinn. Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch
seine rätselhaft überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer
wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen werde auf Erden.
Nichts Gespenstischeres, als wenn im Leben das, was man längst
abgestorben und eingesargt vermeint, plötzlich in gleicher Form und Gestalt
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286