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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Page - 315 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

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Und da saß ich wie alle die andern in meinem Zimmer, wehrlos wie eine Fliege, machtlos wie eine Schnecke, indes es auf Tod und Leben ging, um mein innerstes Ich und meine Zukunft, um die in meinem Gehirn werdenden Gedanken, die geborenen und ungeborenen Pläne, mein Wachen und meinen Schlaf, meinen Willen, meinen Besitz, mein ganzes Sein. Da saß man und harrte und starrte ins Leere wie ein Verurteilter in seiner Zelle, eingemauert, eingekettet in dieses sinnlose, kraftlose Warten und Warten, und die Mitgefangenen rechts und links fragten und rieten und schwätzten, als ob irgendeiner von uns wüßte oder wissen könnte, wie und was man über uns verfügte. Da ging das Telephon, und ein Freund fragte, was ich dächte. Da war die Zeitung, und sie verwirrte einen nur noch mehr. Da sprach das Radio, und eine Sprache widersprach der andern. Da ging man auf die Gasse, und der erste Begegnende forderte von mir, dem gleich Unwissenden, meine Meinung, ob es Krieg geben werde oder nicht. Und man fragte selbst zurück in seiner Unruhe und redete und schwätzte und diskutierte, obwohl man doch genau wußte, daß alle Kenntnis, alle Erfahrung, alle Voraussicht, die man in Jahren gesammelt und sich anerzogen, wertlos war gegenüber der Entschließung dieses Dutzends fremder Leute, daß man zum zweitenmal innerhalb von fünfundzwanzig Jahren wieder machtlos und willenlos vor dem Schicksal stand und die Gedanken ohne Sinn an die schmerzenden Schläfen pochten. Schließlich ertrug ich die Großstadt nicht mehr, weil an jeder Straßenecke die posters, die angeschlagenen Plakate einen mit grellen Worten ansprangen wie gehässige Hunde, weil ich unwillkürlich jedem der Tausenden Menschen, die vorüberfluteten, von der Stirn ablesen wollte, was er dachte. Und wir dachten doch alle dasselbe, dachten einzig an das Ja oder Nein, an das Schwarz oder Rot in dem entscheidenden Spiel, in dem mein ganzes Leben mit als Einsatz stand, meine letzten aufgesparten Jahre, meine ungeschriebenen Bücher, alles, worin ich bisher meine Aufgabe, meinen Lebenssinn gefühlt. Aber mit nervenzerrüttender Langsamkeit rollte die Kugel unentschlossen auf der Roulettescheibe der Diplomatie hin und her. Hin und her, her und hin, schwarz und rot und rot und schwarz, Hoffnung und Enttäuschung, gute Nachrichten und schlechte Nachrichten und immer noch nicht die entscheidende, die letzte. Vergiß! sagte ich mir. Flüchte dich, flüchte dich in dein innerstes Dickicht, in deine Arbeit, in das, wo du nur dein atmendes Ich bist, nicht Staatsbürger, nicht Objekt dieses infernalischen Spiels, wo einzig dein bißchen Verstand noch vernünftig wirken kann in einer wahnsinnig gewordenen Welt. An einer Aufgabe fehlte es mir nicht. Seit Jahren hatte ich die vorbereitenden Arbeiten unablässig gehäuft für eine große zweibändige Darstellung Balzacs und seines Werks, aber nie den Mut gehabt, ein so 315
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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