Page - 317 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Morgens – es war der 1. September, ein Feiertag – zum Standesamt in Bath,
um meine Heirat anzumelden. Der Beamte nahm unsere Papiere, zeigte sich
ungemein freundlich und eifrig. Er verstand wie jeder in dieser Zeit unseren
Wunsch nach äußerster Beschleunigung. Für den nächsten Tag sollte die
Trauung angesetzt werden; er nahm seine Feder und begann mit schönen
runden Lettern unsere Namen in sein Buch zu schreiben.
In diesem Augenblick – es muß etwa elf Uhr gewesen sein – wurde die Tür
des Nebenzimmers aufgerissen. Ein junger Beamter stürmte herein und zog
sich im Gehen den Rock an. »Die Deutschen sind in Polen eingefallen. Das ist
der Krieg!« rief er laut in den stillen Raum. Das Wort fiel mir wie ein
Hammerschlag auf das Herz. Aber das Herz unserer Generation ist an
allerhand harte Schläge schon gewöhnt. »Das muß noch nicht der Krieg sein«,
sagte ich in ehrlicher Überzeugung. Aber der Beamte war beinahe erbittert.
»Nein«, schrie er heftig, »wir haben genug! Man kann das nicht alle sechs
Monate neu beginnen lassen! Jetzt muß ein Ende gemacht werden!«
Unterdessen hatte der andere Beamte, der unseren Heiratsschein bereits
auszuschreiben begonnen hatte, nachdenklich die Feder hingelegt. Wir seien
doch schließlich Ausländer, überlegte er, und würden im Falle eines Krieges
automatisch zu feindlichen Ausländern. Er wisse nicht, ob eine Eheschließung
in diesem Falle noch zulässig sei. Es tue ihm leid, aber er wolle sich
jedenfalls nach London um Instruktionen wenden. – Dann kamen noch zwei
Tage Warten, Hoffen, Fürchten, zwei Tage der grauenhaftesten Spannung. Am
Sonntagmorgen verkündete das Radio die Nachricht, England habe
Deutschland den Krieg erklärt.
Es war ein sonderbarer Morgen. Man trat stumm vom Radio zurück, das
eine Botschaft in den Raum geworfen, die Jahrhunderte überdauern sollte,
eine Botschaft, die bestimmt war, unsere Welt total zu verändern und das
Leben jedes einzelnen von uns. Eine Botschaft, in der Tod für Tausende unter
jenen war, die ihr schweigend gelauscht, Trauer und Unglück, Verzweiflung
und Drohung für uns alle und vielleicht nach Jahren und Jahren erst ein
schöpferischer Sinn. Es war wieder Krieg, ein Krieg, furchtbarer und
weitausgreifender als je zuvor ein Krieg auf Erden gewesen. Abermals war
eine Zeit zu Ende, abermals begann eine neue Zeit. Wir standen schweigend
in dem plötzlich atemstill gewordenen Zimmer und vermieden uns
anzublicken. Von draußen kam das unbekümmerte Zwitschern der Vögel, die
in leichtfertigem Liebesspiel sich tragen ließen vom lauen Wind, und im
goldenen Lichtglanz wiegten sich die Bäume, als wollten ihre Blätter wie
Lippen einander zärtlich berühren. Sie wußte abermals nichts, die uralte
Mutter Natur, von den Sorgen ihrer Geschöpfe.
Ich ging hinüber in mein Zimmer und richtete in einem kleinen Koffer
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286