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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Morgens – es war der 1. September, ein Feiertag – zum Standesamt in Bath, um meine Heirat anzumelden. Der Beamte nahm unsere Papiere, zeigte sich ungemein freundlich und eifrig. Er verstand wie jeder in dieser Zeit unseren Wunsch nach äußerster Beschleunigung. Für den nächsten Tag sollte die Trauung angesetzt werden; er nahm seine Feder und begann mit schönen runden Lettern unsere Namen in sein Buch zu schreiben. In diesem Augenblick – es muß etwa elf Uhr gewesen sein – wurde die Tür des Nebenzimmers aufgerissen. Ein junger Beamter stürmte herein und zog sich im Gehen den Rock an. »Die Deutschen sind in Polen eingefallen. Das ist der Krieg!« rief er laut in den stillen Raum. Das Wort fiel mir wie ein Hammerschlag auf das Herz. Aber das Herz unserer Generation ist an allerhand harte Schläge schon gewöhnt. »Das muß noch nicht der Krieg sein«, sagte ich in ehrlicher Überzeugung. Aber der Beamte war beinahe erbittert. »Nein«, schrie er heftig, »wir haben genug! Man kann das nicht alle sechs Monate neu beginnen lassen! Jetzt muß ein Ende gemacht werden!« Unterdessen hatte der andere Beamte, der unseren Heiratsschein bereits auszuschreiben begonnen hatte, nachdenklich die Feder hingelegt. Wir seien doch schließlich Ausländer, überlegte er, und würden im Falle eines Krieges automatisch zu feindlichen Ausländern. Er wisse nicht, ob eine Eheschließung in diesem Falle noch zulässig sei. Es tue ihm leid, aber er wolle sich jedenfalls nach London um Instruktionen wenden. – Dann kamen noch zwei Tage Warten, Hoffen, Fürchten, zwei Tage der grauenhaftesten Spannung. Am Sonntagmorgen verkündete das Radio die Nachricht, England habe Deutschland den Krieg erklärt. Es war ein sonderbarer Morgen. Man trat stumm vom Radio zurück, das eine Botschaft in den Raum geworfen, die Jahrhunderte überdauern sollte, eine Botschaft, die bestimmt war, unsere Welt total zu verändern und das Leben jedes einzelnen von uns. Eine Botschaft, in der Tod für Tausende unter jenen war, die ihr schweigend gelauscht, Trauer und Unglück, Verzweiflung und Drohung für uns alle und vielleicht nach Jahren und Jahren erst ein schöpferischer Sinn. Es war wieder Krieg, ein Krieg, furchtbarer und weitausgreifender als je zuvor ein Krieg auf Erden gewesen. Abermals war eine Zeit zu Ende, abermals begann eine neue Zeit. Wir standen schweigend in dem plötzlich atemstill gewordenen Zimmer und vermieden uns anzublicken. Von draußen kam das unbekümmerte Zwitschern der Vögel, die in leichtfertigem Liebesspiel sich tragen ließen vom lauen Wind, und im goldenen Lichtglanz wiegten sich die Bäume, als wollten ihre Blätter wie Lippen einander zärtlich berühren. Sie wußte abermals nichts, die uralte Mutter Natur, von den Sorgen ihrer Geschöpfe. Ich ging hinüber in mein Zimmer und richtete in einem kleinen Koffer 317
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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