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lipphof vorbei und der süßliche Verwesungsgeruch der Leichen lag wochen-
lang in den umliegenden Gassen.
In der Folge dieser Bombenangriffe auf die Wiener Innenstadt wurde auch das
Stammgebäude der Firma Gebrüder Böhler & Co. in der Elisabethstraße 12,
in unmittelbarer Nähe des Luftgaukommandos, schwer getroffen. Eine ers-
te Welle von Sprengbomben „öffnete“ das Haus und bot den nachfolgenden
Brandbomben reichlich „Nahrung“. Die Männer der herbeigerückten Feuer-
wehr waren aber zusätzlich den Gefahren durch Tiefflieger ausgesetzt, die
immer wieder Attacken flogen und die Männer unter Beschuss nahmen. Trotz
des mutigen Einsatzes der Feuerwehr und der intensiven Brandbekämpfung –
ein Löschteich war in unmittelbarer Nähe vor dem Schiller-Denkmal – brannte
das Gebäude bis auf die Grundmauern nieder.
Die Tieffliegerangriffe waren oft zermürbender als die Bombenangriffe selbst,
da man hilflos zusehen musste, wie die eigene Wohnung in Flammen aufging
und das gesamte Hab und Gut vernichtet wurde. Für mich hinterließ eine
männliche Leiche, deren Brustkorb von einem Maschinengewehr durchschos-
sen worden war und die tagelang unbedeckt auf der Straße lag, einen sehr
beklemmenden Eindruck. Oft erst nach Tagen konnten die in den Häusern und
auf der Straße liegenden Leichen in einem Papiersack abtransportiert werden.
Die Nachrichtensendungen im Radio wurden immer mit der Luftlagemeldung
eingeleitet. Diese lautete (soweit ich mit erinnern kann) zuerst: „Das Reichs-
gebiet ist feindfrei“, später: „Über dem Reichsgebiet befindet sich kein feind-
liches Flugzeug“, und schließlich: „Über dem Reichsgebiet befindet sich kein
feindlicher Kampfverband.“
Mein Vater war der Luftschutzwart für unser Haus wie auch für das Nachbar-
haus in der Paulanergasse. Wir mussten daher die Anweisungen, die auf immer
schlechterem Papier hektographiert waren, an alle Bewohner austragen und
diese den Empfang bestätigen lassen. Dadurch kannten wir im Laufe der Zeit
nicht nur alle Hausbewohner, sondern auch ihre Arbeitszeiten und wann sie am
ehesten daheim waren oder nicht, kurzum das genaue Kommen und Gehen.
Rückblickend kann ich sagen, dass man sich zu keiner anderen Zeit vorher oder
nachher so gut kannte wie zu dieser Zeit, denn man traf sich auf der Straße
beim Anstellen um Lebensmittel, im Luftschutzkeller und später in der ersten
Nachkriegszeit die Frauen und Kinder in unserer Wohnung zum Übernachten.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Titel
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Untertitel
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Autor
- Othmar Nestroy
- Herausgeber
- Technischen Universität Graz
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Abmessungen
- 20.0 x 25.0 cm
- Seiten
- 120
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115