Seite - 28 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Bild der Seite - 28 -
Text der Seite - 28 -
28
„Der Wiener Vasari“
ermöglichen (für Tietzes Ausdruck des Gemeinsinns) – dafür zeigte man sich gren-
zenlos großzügig. Aber bereits in den Jahren, für die die Tagebücher Zeugnis geben,
wurden alle Aussichten zunichtegemacht. „Die stärkste sozio-kulturelle Kraft, die auf
die wissenschaftliche Produktion in den zwanziger und dreißiger Jahren in Öster-
reich wirkte, war wohl der Antisemitismus“, schreibt Feichtinger.12 Im allgemeinen
Kunstbetrieb sah es nicht besser aus. Die Verteilung auf den Rängen gestaltete sich
zusehends rigider. Menschen jüdischer Herkunft wurden von jeder weiterführenden
akademischen Laufbahn ausgeschlossen. Gut ausgebildete, qualifizierte Männer –
und erst recht Frauen – kamen nicht zum Zug. Etliche spielten daher bereits lange
vor dem Jahr 1938 mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. Vor allem Künstler
setzten dies auch schon früh in die Tat um. Traditionell blickten auch die Familien
Tietze und Conrat nach Deutschland, mit fortschreitender Entwicklung erst nach
Italien, dann in Richtung USA.
1925 beantragte Hans Tietze seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand. Die
Recherchen haben es ans Licht geführt : Er und seine Mitstreiter sollten wegen ihres
Engagements für die Museumsreform, im Konkreten wegen des Dublettenverkaufs
(nicht unähnlich Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi), vor einen parlamentari-
schen Untersuchungsausschuss gezerrt werden. In jener Zeit, als sich der Rücktritt
anbahnte, habe sie Hans Tietze geholfen, indem sie ihn an ihren wissenschaftlichen
Interessen teilhaben ließ und den Weg frei gehalten hat „for his return to research
work at any time“, erinnert sich Erica Tietze-Conrat Jahre später in ihrer unveröf-
fentlichten biografischen Skizze über Hans Tietze.13 Als die Würfel schließlich fallen
und Hans Tietze das Ministerium verlässt, gehen für sie Jahre der getrennten Wege,
der Einsamkeit und leisen Melancholie zu Ende, und es beginnt, nun gemeinsam
mit ihrem Lebens- und Berufspartner, eine Schlemihl-Existenz, eine Zeit der Unbe-
haustheit, der Entfremdung von der vertrauten Welt.
Anmerkungen
1 Erica Tietze-Conrat, „Georg Ehrlichs Frauenbildnisse“, in : Die graphischen Künste, Bd. 48,
H. 1, 1925a, 81–89, 89 [neu herausgebracht in : Almut Krapf-Weiler (Hg.), Erica Tietze-
Conrat, Die Frau in der Kunstwissenschaft, Texte 1906–1958, Wien 2007, 236–245, 243].
2 Erica Tietze-Conrat 1925a, 89 [2007, 243].
3 Erica Tietze, Abschied, Radierungen von Georg Ehrlich, Wien 1926.
4 Peter Michael Braunwarth, Kommission für Literarische Gebrauchsformen der Österrei-
chischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Arthur Schnitzler, Tagebuch, 1879–1931,
10 Bde., Wien 1987–2000.
5 Ernst H. Buschbeck, „Hans Tietze zum Gedenken“, in : Die Presse, Morgenblatt, 16.4.1954.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien