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Tagebuch 1923
In der früh um ½ 8 am 17. mit dem Postauto nach
Reichenhall. Auto offen, kalt, Regen. Die Kinder
grade aufgewacht, Vroni sich noch geräckelt, hat vom
Fenster aus nachgewinkt. Auf dem Bahnhof in Rei-
chenhall belustigender Streit (ach so traurig) zwi-
schen einem Wiener Reisenden (Viktualienhändler
in 2. Generation) und Bahnbeamten, Selbstgefühl des
Wieners wegen seiner Edelvaluta, an die er noch gar
nicht gewöhnt ist. Mit dem Briefträger von Lofer ge-
reist, der abgebaut werden soll, weil er im Nebenbe-
ruf eine Schnapsbrennerei hat. „Wie komme ich dazu,
und nur weil ich fleißig war, daß ich dran glauben
muß !“ Die Leute sind unlogisch, denken nie eine Sa-
che bis ans Ende durch. In Salzburg natürlich lächer-
liche Paßgeschichten gehabt, die unseren Burokratis-
mus, der ebenso gschaftelhuberisch* wie unauslangend
ist, beleuchten. Humplik gesehen und ausgewichen.
Dame Skandal gemacht, weil der Gepäckträger ihr das
Kofferchen nicht gleich nachgetragen hat, Skandal so
laut, daß ich mich für die Dame interessierte – wer
war’s, natürlich die „Roho“ aus der 37er. Hans hat
mich mit Stoffel in Unter-Döbling erwartet. Große Freude. Die beiden Schweine-
reien betreffen in keiner Weise den Hans. Prüger heiratet u. sucht eine Wohnung
u[nd] z[war] will er, daß man im oberen Belvedere („es hängen doch nur 5–6 Bilder
in einem Zimmer, da kann man ja zusammenrücken !“) ihm eine Wohnung gäbe !
Hat darüber mit Petrin gesprochen. Nr. 2 ist ein Kuhhandel, den der Minister mit d.
Menghin abgemacht hat u. jetzt durchsetzen will. Das Haus ist sehr schön gemalt ;
aber die Köchin spinnt, am Mittwoch soll eine neue „Frau Marie“ kommen.2
Hans Tietze, mit Beginn der Republik ins Unterrichtsministerium berufen, ist durch seine
führende Stellung bei der Umgestaltung der republikanisch gewordenen Museen sowie
durch die Verhandlungen mit den Siegermächten und Nachfolgestaaten der Habsburgermo-
narchie stark in Anspruch genommen.3 In dieser Zeit arbeitet ETC an einem eigenständi-
gen Weg. Neben ihren Versuchen als Dichterin leistet sie ihren Beitrag zum gemeinsamen
Einkommen durch kunsthistorische Tätigkeiten. Sie nimmt an den künstlerischen Ereignis-
sen der Stadt regen Anteil und erfreut sich an ihren vier Kindern. Der intensive geistige
Austausch mit dem Maler und Grafiker Georg Ehrlich hilft ihr über die Einsamkeit jener
Jahre hinweg. Sie managt Ehrlichs künstlerische Agenden, ermöglicht ihm ein einigerma-
* wichtigtuerisch
Abb. 2: Wohnhaus der Tietzes in Heiligenstadt,
Döbling.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien