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Tagebuch 1923
sche Holzfigur famos. Aber was Moll sonst als Auftakt gekauft haben will, trostlos.
(Maria Ender-Moll soll sich gerüchtweise scheiden lassen.) Nach Tisch Dr. Rapa-
port der Sachen brachte, die er morgen in d. Sezession einreichen will ; seine Leute
drängen ihn u. er hofft, wenn er ausstellen kann, einen Mäzen zu finden. Es sind sehr
gute Zeichnungen, aber so klein, daß man ganz dran vorübersehen wird. Mit Stof-
fel Homer gelesen. Abends Ehrlich, der mir eine wundervolle große Lithogr[aphie]
(Proletariermädel) als Geburtstagsgeschenk u. zum Wiedersehen brachte u. eine Rö-
telzeichnung vom Anderl. Sehr gemütlicher Abend, er erzählte viel von Berlin, auch
von Anna Mahler, die dort in tiefster Einsamkeit mit d. Komponist Krenek lebt.9
22.VI.
Meine „Legende vom Jüngling der vom Tode gekostet“ abgeschrieben. Nachmittag
mit Hans in d. Sammlung Castiglioni, die in unsrer Abwesenheit eröffnet worden
war ; Planiscig hat uns geführt. Wenn was gut war, hat er es gemacht, war’s nicht ganz
gelöst, hat ihm Castiglioni dreingesprochen, war’s schlecht hat es Castiglioni allein
gemacht. Mich hat es furchtbar enttäuscht u. mißgestimmt. Die Sachen, die erste
Qualität haben, gehen unter den anderen schlechten u. überhaupt in der Tapezierer-
aufmachung unter. Ich freu mich auf die Katalogpublikationen, die endlich wieder
den Stücken die notwendige Isolierung schenken werden. Es wirkt wie ein Kreuzen-
stein ins Florentinische übersetzt. Oder besser wie bei einem großen Kunsthändler,
der auf amerikanisch-englische Kunden rechnen muß. Abends war die Maja da u. hat
sehr lustige Geschichten aus dem Leben in d. Walfischgasse gemacht. Die Mama ist
doch die originellste Frau, die es auf der Welt gibt.10
Die Zeiten, als die Wohnung der temperamentvollen Ida Conrat Zentrum eines musikali-
schen Zirkels rund um die Person des Komponisten Johannes Brahms gewesen war, lagen
Jahrzehnte zurück. Das geräumige Appartement in der Walfischgasse Nr. 12 blieb für ETC
bis 1938 ein kommunikativer Ort, an dem sie nicht zuletzt mit ihren beiden Schwestern
und deren Angehörigen bei deren gelegentlichen Wien-Aufenthalten zusammentraf. Mehr-
mals wöchentlich, an den Tagen, an denen ETC in der Albertina beruflich im Einsatz war,
aß sie gegen geringes Kostgeld bei der Mutter zu Mittag.
23.VI.
Ich habe angefangen, meinen „Tobias“ zu überarbeiten.11
24.VI. bis 30. Juni
Das waren schrecklich geschäftige Tage. Öfters bei Dr. Heymann u. dann zu spät
zum Nachtmahl* zuhause, weil er immer die interessanteste Mappe findet, wenn man
* Abendessen
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien