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Tagebuch 1923
schon weggehen muß. Am 27. war Stoffels letzter Schultag mit recht anständigem
Zeugnis, dann haben wir den ganzen Nachmittag gepackt u. Unsinn getrieben. Er
war so ausgelassen – man muß es bis zum Mistkastl* gehört haben. Und was er alles
eingepackt hat ! 25 Zündhölzlschachteln mit Chemikalien ! und eine ganze Kiste mit
Salpeterlauge, Salzsäure, Schwefelsäure etc. (alles was man zum Mineralien bestim-
men braucht), wollte er noch mitnehmen – das hab
ich mühsam verhindert. Am 28. ist er fortgefahren
und am Nachmittag hab ich den holländischen Lo-
gierbesuch Frl. Mieke Schilthuis abgeholt. An einem
Orangetuch machte sie sich kenntlich. Sie ist sehr still
und freundlich, aber sie kann nicht sehr gut deutsch
u. ich muß jeden Witz ein paarmal sagen, bis sie ihn
versteht. Gleich am nächsten Tag haben wir sie in
den Figaro geschickt u. mit Ehrlich einen sehr net-
ten Abend verbracht. Unser neues Projekt durchge-
sprochen : eine Gesellschaft tritt zusammen, die ihm
eine bestimmte Summe zusichert, wofür seine ganze
Produktion d. Gesellschaft gehört. Ein Teil wird un-
ter die Mitglieder verteilt, der Rest zu Gunsten eines
Händlers (der d. Arbeit auf sich nimmt), d. Künstler
und d. Gesellschaft verkauft. Dann haben wir die
neue Publikation von Porter, Romanische Skulpturen,
durchgesehen. Hans hat ein überraschendes Vorbild
fürs Tympanon vom Riesentor drin gefunden. Lustiger
Zufall. Heut (am Samstag) vormittag Akademie, die
neugekauften Reliefs angesehen, die das Münchner
Nationalmuseum als zweifelhafte Stücke abgestoßen hat. Hier hat sie Werner gehabt,
bei dem sie Kris gesehen hat, der Hermann nach vielen Bemühungen hinbrachte ;
dieser aber wollte sich nicht mit so zweifelhaften Stücken einlassen. Bei Werner
kaufte sie Nebehay, der sie abdecken lassen wollte. Eigenberger praenumerierte** sie
darauf, wenn sie abgedeckt wären, u. als er sie anschauen kann, hatte sie Nebehay eine
Stunde vorher verkauft. Damals waren es noch 4 Stück, jetzt aber sind es die 2 bes-
sern, die Eigenberger doch zurückkaufen konnte. Nun bei solchen Irrfahrten sind die
Stücke nicht billiger geworden.
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Dann eine Vandyckskizze u. 5 Rubensskizzen und ein Bild von Steen angeschaut,
die Eigenberger in dem Depot nach Beseitigung der Übermalungen entdeckt hat.
Bisher galten alle diese Bilder als spätere Kopien. 2 darunter besonders gut ; er be-
* Abfalleimer
** Kaufinteresse anmelden Abb. 4 : „Die Mama ist doch die originellste
Frau …“ – Ida Conrat, 1920er-Jahre.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien