Seite - 72 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Bild der Seite - 72 -
Text der Seite - 72 -
72
Tagebuch 1923
31.VII.1921 [verschrieben : 1923]
Hans war gestern sehr gut zu mir. Vor allem hat er mir doch erst meine Abreise-
karte für Donnerstag besorgt. Nachmittag bei Bruno Kern, der vor allem antike u.
ein paar gute Quattrocentostücke hat. Die Photogr[aphie] eines Marmortorsos hab
ich abends gleich dem Kaschnitz weiter geschenkt. Von Eger kam ein Brief d. h. die
Kopie eines Briefes, den er einem Bühnenverlag in Berlin mit meinem Todessprung
schickte. Heute Stiegenläufer* für die (ab morgen) erhöhte Kinderzulage gekauft. Es
reichte nur über einen Stock. Warum hab ich nicht mehr Kinder.45
Ringstraße, Juli und heiß.
Bei der Haltestelle, wo man nach Hernals
Umsteigt,
Im Schatten der Litfaßsäule
–
Schwarzer Kegel auf weiß
–
Sitzt ein Invalid
–
Den Kopf zur Säule geneigt
–
Und geigt
Ein schütteres Lied.
Der Straßenlärm schluckt den Ton.
An Stirn und Hals
Narben, die lange schon
Verwachsen sind.
Er geigt und geigt
–
Und ist blind
Ist das noch ein Mensch
– Individuum mit Ichgefühlen ? !
Nein.
Ein Seufzer Großstadtluft
Und eine Nase voll
Parfum
– Staub und Autoduft
–
Eckstein
In Person
–
Abhub** von Edelsinn
–
Billiger Zoll,
Den jeder Schuft
Für seine Seligkeit
Hinschmeißen soll.
* Treppenläufer
** Rest
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien