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Tagebuch 1923
Ich kann es ihm so stark nachfühlen. Wenn er dichten würde, ich möcht ihm doch
die Augen auskratzen. Ich seh es, wie er [sich], mit dem starken Wunsch über [sie] hi-
nauszukommen mit seinen Widerständen herumschlägt. Ich kann nichts tun u. leide
sehr darunter. Ich muß wieder ein Drama schreiben, das ist dann besser. Oder sonst
etwas
– nur keine Gedichte. Sie sind eben das Persönlichste !61
24.VIII.
Ich muß ganz die Schweden leben
…
Gestern nachmittag holte ich sie ab und ging mit ihnen „Volksleben“ genießen. Das
interessierte sie am meisten. Wir kamen durch die Judengasse, wo die jungen u. alten
Kleiderverkäufer vor ihren Geschäften (alte Hosen) standen u. saßen. Sie hatten solche
Typen nie gesehen und Herr Runberg war so glücklich, daß er mir mitten auf der Straße
vor Dankbarkeit die Hand schüttelte. An diesem sommerwarmen Nachmittag (flauer
Geschäftsgang) kamen mir diese Männer plötzlich so tragisch ernst vor u. es war mir
direkt ein physischer Schmerz, daß ich sie so „vorzeigte“ u. damit prostituierte. Für meine
schärferen Augen war nur so ganz wenig Unterschied zwischen diesen Köpfen u. dem
Stoffel, der harmlos lachend neben mir ging. Nur die Einstellung ist anders
…62
Dann fuhren wir in d. Prater ; erst Nobelallee, dann Wurstelprater. Die Schweden
machten d. Tour mit d. Riesenrad, dann mit Stoffel die Hochschaubahn* (Glücklich
kreischen zu dürfen), Watschenmann, Eierschießen. Ein 2. (neuer) Watschenmann
ist aufgestellt : ein Judenbub. In einem stillen Winkel vier Kasten mechanisches The-
ater, einer datiert 1882 ; für 100 K[ronen] kann man Bleikugeln kaufen u. mit die-
sen das Theater in Bewegung setzen. Almhütte innen, und Bauernhof, ein Einsiedler,
der läutet, während sich neben ihm eine Kapellentür öffnet u. den Altarschrein zeigt.
Kinderwiege bewegt sich, Bäurin buttert, Kuh schlägt mit Schweif, Bauer setzt sich
auf der Ofenbank auf. Mehrere Figuren haben nicht mehr mitgeknaxt u. die Köpfe
nicht mehr mitbewegt ; kaputt, der Mann auf der Ofenbank legte sich nicht mehr
ganz um, blieb in d. Luft hängen
…63
Eine Reklame für den d. Zirkus dahinter, große Estrade wie Quacksalber auf
holländ[ischem] Bild. Ausschreier darauf, 20jährig, blonde lange Haare, Brille, ganz
ausgepumpt. Bei ihm 2 kleine spielende Affen, die er lieb hat, die ihn lieb haben.
Sonst ganz einsam – unten Publikum, kontaktlos. Oben er ganz fertig u. noch viele
Stunden Arbeit vor sich. Hauptattraktion ein Halbmensch, Mädchen mit Affenkopf.
Man hat ihn nicht gesehen, rosa Sack darüber. Das (8jährige) Kind schnäuzte sich
aber immer hinein und straffte dadurch die Form deutlich : Mikrokephal. Unartiku-
lierte Laute. Kann nicht einmal gehen. Mich packte das Grausen
…
Nachtmahl beim Eisvogel, Hans u. Alf kamen auch hin. Ach, mir tut’s so leid um
das viele Geld, das Herr Runberg ausgegeben hat.
* Achterbahn
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien