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Tagebuch 1923
31. August
Gestern abends bei Nebehay. Ich fuhr mit d. Vororte-
bahn nach Hütteldorf u. dort holte mich ein Auto ab ;
große Gesellschaft Börner u. Artarias von der Bran-
che, dann sein Hauptkäufer Herr Ingenieur Csche-
chowitza (?) oder wie er heißt, dann Stix mit Frau, Dr.
Schwarz u. Grimschitz. Hummer, Suppe, Ente, Obst,
Käse. Dazu die richtigen Weine. Am Schluß ein
wieder bereitgestelltes Auto, das Stixes u. uns heim-
brachte. Wenn wir d. Hälfte des ausgelegten Geldes
bar bekommen hätten, könnten wir eine Woche län-
ger in Paris bleiben. Derzeit halten wir bei 23 Pfund ;
dazu kommen noch die englischen Universitätsvor-
träge Mitte September u. heute eine Einladung vor
Zürcher Studenten zu sprechen, die Hans ganz gut
am Rückweg absolvieren kann (Brief Hugelshofers).
Heut früh hab ich „das Madl“ vom Alf eingeladen, sie
wird nächste Woche kommen. Er schnitt furchtbare
Gesichter u. dann sprach ich lange von den Wider-
ständen, die wir haben u. er versicherte mich, daß das
Madl am meisten Angst hätte. Damit erklärte ich
mich dann für befriedigt. Aber es hilft uns allen nichts
…71
Anderl fragte mich : „Haben wir in unserem Magen, ich mein überhaupt in unserm
Körper drinnen etwas Grünes ?“
–
Hans hat schon die Züge für Paris herausgesucht
…
1. September 1923
So fängt heute ein Monat an, auf den ich mich sehr freue. Reisen !
–
Sonst bin ich ja in dieser entsetzlich trostlosen Stimmung, aus der nur irgend-
eine goldene Frucht, die mir ganz reif, ohne Vorfreude u. Erwartung, in den Schoß
fällt, mich herausreißen könnte. Heut ist Ehrlich hier gewesen, der Kontrast mit dem
Land, die drückende Luft hier, hat ihm stark zugesetzt. Er will erst seine Sachen
im Wechselrahmen zeigen u. hat sie darum ins Atelier mitgenommen. Er hat ganz
lächerlich jung ausgeschaut u. nach Rasur gerochen u. ich hab nicht gut mit ihm spre-
chen können. Ich muß ihn wieder arbeiten sehen. Das Zimmer vom Seitz mit seiner
einseitigen Lichtquelle ist nicht sehr für ihn geeignet ; höchstens zum Zeichnen.
–
–72
Heut hab ich zum ersten mal dem Wind zugehört u. meine Gelangweiltheit dis-
tanziert.
Abb. 17 : Albrecht Dürers „junge Venezianerin“,
1505 – heute noch Zugpferd des Kunsthistorischen
Museums in Wien.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien