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Tagebuch 1923
3. Sept[ember]
Gestern vormittag Familie Steiner im Auto zur „1. Pariser Konferenz“, wie sie die
Entrevue auf einer adhoc gewidmeten Zeichnung vom Campfer See nannte. Nach-
mittag Ehrlich u. Schwester ; er hatte die Zeichnungen vom Anderl, Vroni u. mir
mitgebracht, die Hans und Alf ganz ausgezeichnet gefallen haben. Hans konstatierte
sofort den ganz neuen Strich, ebenso (ganz selbständig) der Alf und Ehrlich will es
nicht glauben
…73
Wir haben die Zeichnung von der Vroni als gotisches Christkindl zu den anderen
drei geschenkten dazu erworben u. gleich gerahmt (den Svabinsky herausgenommen,
den wir ohnedies abgeben möchten). Ich war gestern den ganzen Nachmittag gren-
zenlos nervös, eigentlich schon seit in der Früh die Vroni über die Stiege hinun-
terrutschte u. am Kreuz weh tat. Sie hat so gebrüllt mit ganz ewig langen Pausen
zwischen den Schreien
…
4. Sept[ember]
Gestern früh in der Elektr[ischen] Ehrlich getroffen, d. h. er war im hintern Wagen
mit seinem Materialienkoffer u. ich im vorderen. Da es überdies regnete, konnten
wir Hero u. Leander spielen. Er glaubt, daß aus d. Geschichte mit Hübsch nur des-
wegen nichts geworden ist, weil er darüber gesprochen hat (Aberglaube). Zahnarzt,
Putzen, Auf Wiedersehen Anfang März. Von Sandwichsmen (ganzer Zug, Burschen
u. Greise, pfeifend u. manchmal ganz langsam, ohne Kontakt mit den […] Plakaten
ober ihnen) verleitet, „Messetreiben“ in d. Innern Stadt besichtigt, d. h. nur ein paar
Modeauslagen, vor allem Braun am Graben, wundervoll geschmackvoll. Beim Stix
Rendezvous mit Hans. Nicht allererste Degaszeichnungen gesehen, eine amüsante
Kopie nach Signorelli-Engel. Entzückende Tänzerin von Rodin (!). Die Ehrlichschen
Portraits gezeigt. Von Vronili sehr begeistert ; bei meinem Schwarzen sagte Stix, daß
Ehrlich jetzt den Strich OKs habe (was sicher nur eine äußerliche Ähnlichkeit ist, da
es beiden auf ganz verschiedene Dinge ankommt.)74
Dann zeigt Hans meine braune Zeichnung : „Aber etwas so Durchgeistigtes kann
der Kokoschka heute nicht mehr machen“ – und die andern stimmten restlos in d.
Lob ein
…
Dann ging ich mit Hans zur Würthle, die aber die Kubinausstellung noch nicht
eröffnet hat
…75
Am Weg fragte er mich, womit ich meine Toiletten für Paris komplettieren wolle,
bez[iehungsweise] müsse. Mein Gott, womit soll ich anfangen ? ! da kann ich ebenso
gar nicht anfangen
…
Mittag bei Mama, der ich viel Heiterkeit brachte. Dann zuhaus, langer Brief an
Carla. Heut früh das Gedicht, an dem ich schon seit Tagen herummurkse, nach einer
andern Richtung geführt u. zuende gebracht. Merkwürdig, wie ich jetzt gar keine
Lust habe, meine Gedichte vorzulesen. Vielleicht gefallen sie mir selbst nicht so ? Das
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien