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Tagebuch 1923
erinnerte ihn daran, daß er mich selbst gebeten hatte, als wir nach Lofer fuhren, nicht
in d. […] über Künstler zu sprechen – „Die Landschaft ist mir zu stark, ich halt sie
nicht aus
– drum sprech ich über diese Sachen“
– entschuldigte er sich. Am Sonntag
Gottesdienst, Gruppen von Bauern auf d. Platz, die d. Wandlung mitten unter ihren
Geschäften mit dem Hut in d. Hand mitmachten. Dann stiegen wir in d. Zug, wo
Hans u. Steiners eine gute Nacht gehabt hatten u. wesentlich frischer war als ich, die
der Kirchturm nicht schlafen ließ. Auswanderer im Zug, wenig Platz, von Buchs aus
beisammen, Schweizer Wagen (3. Kl[asse]) mit Klosettpapier ! Großer Eindruck. Wir
lehren „Monsieur George“ ohne Erfolg französisch.97
Nachts um ½ 11 in Basel. Waschen, ach Waschen ! Adalin, Schlafen. Gemütlicher
Morgen. Erst mit Hans, der dann erst richtig auftaute, dann Dom, Terrasse auf d.
Rhein ! und Galerie (Stärkster Eindruck trotz Witz u. Familie Holbein, die Bilder
von Man[uel] Deutsch). Abfahrt, Zoll- u. Paßrevision gleich in Basel ; Ehrlichs Ziga-
retten werden verdächtigt, er muß daraufhin seinen Koffer öffnen, was erst im letzten
Augenblick geht. Ein Paar Schuhe, die er ohne sie auch nur ein einzigesmal zu tragen
eingepackt hat, müßen verzollt werden (4 ½ francs). Hans u. er springen im letzten
Augenblick in den Zug. Reise eintönige Gegenden, dröhnender Lärm, kurzer Wa-
gen,
…98
30.IX.1923
Wieder eine Unterbrechung und jetzt lohnt es sich wirklich nicht, die täglichen Be-
richte zu rekonstruieren. Wir sind passabel untergebracht, das Zimmer finster, aber
sehr sehr ruhig, sodaß wir gut ausruhen können. Die Stadt ist das hinreißendste, das
man sich denken kann. Ich denke fast nie an Wien zurück
– wenn aber, so seh ich es
ganz ganz klein wie einen schönen aber doch ganz kleinen Schmuckgegenstand. Wir
gehen abends gelegentlich aus u. kommen meist erst nach Mitternacht nachhaus. Im
Casino de Paris eine Revue Rubens, Toilettes, Chapeaux – die blödesten sentimenta-
len Einkleidungen u. dazu d. fabelhafteste Aufmachung. Als Höhepunkt immer die
nackte Frau – die mit den zarten Brüsten für mich immer etwas keusches reines hat.
Sogar hier in dieser Umgebung. Im Lapin agile der grotesk stickigen Künstlerkneipe
auf d. Montmartre sind die Couples vor oder nach d. Erschöpfung auch immer et-
was ganz natürliches für mich. Ich kenne keine Prüderie mehr, sehe nur den amoren
omnipotentum überall u. überall. Gewiß kein einziger Herrscher u. nicht agens für
jeden u. immer – wenn aber oben auf, dann Ehrfurcht vor jeder Gestaltung. Auch
Kunst, alte u. neue. Am stärksten diese. Aber nicht bei den Theoretikern Gris, Braque,
Metzinger
– nein, viel mehr geh ich mit bei Le Fauconnier, von dem wir bei J. Billiet
das ganze Material der nächsten Ausstellung gesehen haben. Ich sitze gerade auf
einer Wiese im Wald von St. Cloud – am anderen Ende der Wiese auf 2 Plaids unsre
Gesellschaft, vermehrt von Ehrlichs persischen Freunden
…
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien