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Tagebuch 1923
Position wir darum nicht stützen wollen, wird’s ihm nicht gelingen. Da seine (Berls)
eigene Frau christl[ich]-sozial wählt, d. h. Seipel u. sein Sanierungswerk wählt, wird
ihn unsre Andersgläubigkeit nicht überraschen. Aber wen ? Hans sagt „wenn ich
wüßte, wie der Wahlkampf ausgeht, wüßte ich auch, wem ich meine Stimme geben
möchte – der Minorität nämlich“. Siegen die Christl[ich]-Sozialen, so geht d. Sa-
nierung ungehindert weiter, dann hätte ich gern die Sozialdemokraten gewählt, um
gegen die Auswüchse der Christl[ich]-Sozialen, diese furchtbare Parteipolitik z. B. im
Unterrichtsamt gearbeitet zu haben.103
20.X.1923
Gestern nachmittag bei Laske mit Hans zusammengetroffen, dann zu Steiners, wo wir
gemütlich wie immer den Abend verbrachten. Viele Anekdoten über Jungnickel
– auch
über Frau Trenkwald, u. a. daß sie bei irgendeinem Jubiläum ihres Gatten (50. oder 60.?
Geburtstagsfest) auf ihm reitend wie Phyllis auf Aristoteles hereingekommen wäre u.
die Gäste zur Gratulation aufgefordert hätte. Man muß sich Trenkwald dazu denken,
diesen vornehmen, ganz zugeknöpften, liebenswürdig lächelnden weißbärtigen Herrn
und daneben diese Närrin, um das grotesk unverständliche d. Situation zu verstehen.
Ich spreche am Nachhauseweg mit Hans darüber – wie doch das tiefere erotische
Gründe haben müsse u. wie es doch sonderbar sei, wie man nicht einen einzigen Zug
im Gesicht Trenkwalds wiederfinden könne, der diese Abnormitäten erklären würde.
Hans sagt : „Es sind diese erotischen Dinge die tiefsten Geheimnisse im Leben eines
Menschen, viel tiefer als alles Intellektuelle, das sich darüber schiebt u. d. Ausdruck be-
stimmt.“ Heut früh war ich erst d. Bilder zu Tischler zurücktragen, das Pastell von OK
u. die frühe Zeichnung von OK, die wir d. ganzen Sommer in Pension gehabt hatten.
Das Pastell möcht er gerne verkaufen, gibt es für 15 Millionen
–
Hans wird morgen mit Haberditzl reden. Er wollte es eigentlich gegen den C[arl]
Hofer bei Würthle umtauschen, den ihm aber die Staatsgalerie weggekauft hat. Hans
wird morgen mit d. Haberditzl reden. Ich hab seine neuen Bilder gesehen
– alles ganz
nett, aber nirgends aus einer letzten Notwendigkeit herausgeschöpft. Ein kleines, sehr
leicht u. zart gemaltes Stilleben möcht er am liebsten in die Staatsgalerie bringen. Ich
hab ihm zugeredet, es d. Haberditzl zu zeigen. Nachher hab ich Hans bei Fannina
abgeholt u. bin mit ihm wählen gegangen. Hans hat einen leeren Zettel gewählt
– ich
sozialdemokratisch. (Wie gesagt, zur Stärkung der Majorität).104
21.X.23
Heute heiratet der Alf. Natürlich weiß ich nichts Offizielles darüber. Ich fühle mich
nicht wohl u. mache darum lauter Besuche. Erst Haberditzl, die neuen Donner-
statuetten mir angesehen, die wirklich viel besser sind als die Parallelen im Kunst-
hist[orischen] Museum. Nachmittag bei Fröhlich-Bum, die mir konstant Busen und
Beine zeigte
– die Frau muß Ostentativistin sein.
–
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien