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Tagebuch 1923
Frau noch die Dame, bei der sie wohnen am Abend mitbringen darf. Ich sagte nicht
sehr freundlich ja u. amen dazu. Es war eine Frau Nögerath oder sonstwie u. sah aus
wie eine Puppe – andres trat auch im weiteren Verlauf nicht zutage. Die Frau ist
hübsch, nicht mehr in der ersten Jugend u. von so einer selbstverständlichen u. ihr na-
türlichen Art des Aussprechens, daß es fast angenehm klingt. Sie scheint sich förm-
lich wohlig darin zu fühlen u. verletzt darum nicht. Beim Speisen sagte sie zu unserm
OK-Portrait hinüber : „Das Bild würd ich verkaufen – (und dann zu mir) Meinen
sie nicht ?“ Ich zurück mit derselben Liebenswürdigkeit : „Ich bin gar nicht dieser
Meinung.“ Dadurch war die Frage abgetan. Noch während des Desserts kamen die
beiden Holländer, die meine Einsamkeit trösten wollten u. sehr erstaunt waren, mich
in so großer Gesellschaft gefunden zu haben. Es wurde sehr wenig gemütlich u. ich
war froh, als um 10h Hans ankam u. die Gäste sich verzogen
…115
Die Verhandlungen scheinen diesmal nicht so furchtbar anstrengend gewesen
zu sein wie das letztemal, schon weil sie in Extragruppen geführt wurden u. Hans
darum nicht im Finanzministerium „tagen“ mußte, wo die Gratiszigarren ihm Ni-
kotinvergiftung bringen konnten. Nun wird es sich darum handeln, ob die Ungarn
in eine Abtrennung von d. Kulturfragen von den Finanzfragen eingehen, wie es der
Hans vorgeschlagen hat. Wenn nicht so gelten noch immer „die Listen“ als Grund-
lage der meritorischen Unterhandlungen ev[entuell] vor einem Schiedsrichter, soweit
hat Hans Petrovich an die Wand gedrückt, daß dieser zugab, daß die in den Listen
aufgezählten Stücke nur diese Grundlage bilden sollen, von der sie einen Prozentsatz
zu erreichen hoffen ! In der Früh teleph[onierte] Ehrlich u. gab sich mit mir ein Ren-
dezvous in der Renaissancebühne.
–
Dem Zim[mermann hab ich 100.000 K[ronen] für Kaschnitz mitgegeben, weil er
solche furchtbaren Dinge gerade aus Bayern erzählt hat.116
2.XI.1923
Gestern abends mit Ehrlich bei Niddy Impekoven. Stärkster künstlerischer Aus-
druck – besonders für mich durch die fabelhafte Ähnlichkeit mit dem Vronili. Nur
wenn sie in Ruhe ist. Wenn sie dann in ihren hemmungslosen Ausdruck, so stark wie
Wahnsinn, übergeht, macht sie mir fast Angst
– wieder weil ich an Vronili denke. Am
wundervollsten in Violett in den Bach-Tänzen, als altgold-Schalk in Chopin
…
Nachhaus zufuß gegangen. Ehrlich erfuhr aus d. Zeitung, daß sich die Bergner mit
einem Regisseur verlobt hätte. Er konnte sich alles vom Herzen sprechen
–
–117
Am Nachmittag Gaby Ehrlich, dann Ehrlich, der sich entschlossen hat, Vroni zu
malen (ich bin schuld, sagt er, weil ich das auswendige Malen ihm ungesund finde)
und Floch. Ich war sehr müde und enerviert, vor allem durch ein theoretisches
Kunstgespräch, ausgehend von atonaler Musik.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien