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Tagebuch 1923
Hintergrund blau u. Haare rotbraun bißchen kitschig vor, das hab ich mich aber nicht
zu sagen getraut, weil ich mir nicht das feinste Farbensentiment zutraue. Nachhause
mit Hainisch gefahren, dann bis gegen 5 geschlafen u. abends Elternversammlung.
Komisch wie jedesmal, ich selbst einen fulminanten Vortrag gegen d. Märchenfilm ge-
halten, einstimmiger Erfolg bei Eltern u. Lehrern, nur Dr. Richter hat nicht verstan-
den um was es sich […] handelt, ein Vater stellte d. Antrag, daß ein Mitglied d. El-
ternversammlung in den Ausschuß der Filmberatungsstelle bei d. Stadt Wien gewählt
würde,
– das wurde aber inzwischen zurückgestellt, weil d. Verhandlungen noch nicht
abgeschlossen sind. So wäre ich fast in eine Filmprüfungskommission gekommen, die
ich nie ins Kino gehe ! Zuhause dann Alf mit Frau, lustig u. schmerzlos.131
11.XI.1923
Früh bei Floch – nicht da – dann Funke, wo ich Frau Dolbin traf, die so lange blieb,
daß ich das mit Funke begonnene Gespräch wegen Künstlerrentengeschichte nicht
beenden konnte. Mittag bei Halles
– ohne Sensationen
– dann Mama u. zur Jause bei
Frau Frappart, wo ich jeden Samstag also zur Stunde kommen soll. Reich, Idee prot-
zig, trostlos, entmutigend. Hans holte mich ab. Buschbeck hat für seine Enquete im
Tagblatt über Zukunft d. Museen an verschiedene Leute geschrieben, sie mögen Stel-
lung nehmen. U. a. auch an den Hofr[at] Petrin, den Chef des Hans. Nun kam dieser
gestern zum Hans u. bat ihn, Hans möge ihm das Konzept aufsetzen. Er könne alles,
nur d. Literarische sei er nicht imstande ; was d. Inhaltliche betrifft, identifiziere er
sich vollkommen mit d. Broschüre, sodaß es der Hans ganz nach seinem Wunsch
niederschreiben könne. Abends bei Steiners, furchtbar viel gelacht, gute Aktzeich-
nungen gesehen, sehr abgespannt nachhause gekommen (mit der blauen). Das Kind
von Theresens Bruder ist gestern früh gestorben, ein Leichenbegängnis soll angeblich
in der Vornehmheit, wie sich’s d. Mutter wünscht, 2 ½ Millionen kosten (Verbren-
nen ist viel billiger, aber d. Frau so überkatholisch, daß sie es nie zugeben würde),
Geld ist keines da. Ich kann nicht helfen. Heut früh war Floch da u. ich besprach
alles mit ihm, er war sehr einverstanden. Zum erstenmal geheizt. Das tut gut. Stoffel
sagt : „Das ist fast ein so großes Fest wie Weihnachten.“ Ein Gedicht, das seit gestern
abends in mir lebt niedergeschrieben.132
Es treiben
Im grauen Nebel weiße
Und gelbe Riesenbälle
–
Und grelle Silberfälle
Brechen aus den Scheiben
–
Und reichen
Übers Pflaster halbe Kreise,
Die Milch und Blut
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien