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Tagebuch 1923
er möchte eine Zeitschrift gründen, um sie abzudrucken – weil die Arbeiterzeitung
für diese Dinge wirklich nicht der Ort ist.“
–145
Ehrlich hatte einen ganz neuen Anzug an u. war ganz ganz glücklich u. geehrt
damit. Alle Leute glauben, daß er 1,800.000 K kostet
– und ich hab ihn doch nur um
die Hälfte gekauft. Bei der Sitzung am Vormittag war Frau Berl mit. Natürlich geht
es nicht mit offenen Haaren
– aber der Kopf von Mizzi hat ihm diesmal schon besser
behagt. Aber die Mutter gefällt ihm viel besser. Die möchte er viel lieber zeichnen.
Er ging dann zum Chat Noir, weil Flechtheim aufgeschienen ist. Wir blieben noch
bis gegen ½ 10 – ich widmete mich fast ausschließlich Frau Menczel – machte ihr
den Hof, – die Börse steht ja jetzt besser, vielleicht gibt sie Künstlern mehr. Gegen 8
kamen die Dvorakkinder mit den ganzen Buben geführt von Stoffel u. einer hielt an
mich eine Dankrede.146
28.XI.1923
Am Montag war ich den ganzen Tag grenzenlos enerviert, weil ich zu keiner Arbeits-
sammlung kommen kann. Abends dann außerordentliche Elternversammlung, Orga-
nisierung der Wiener Kinder für Deutsche Kinder, vom Schulrat wird verlangt, daß
die Eltern, jeder in seinem Sprengel, einsammeln sollen. Ich habe Hans und mich für
Samstag 7–9 bei der Endstation der 38ger gemeldet. Eine richtige Grinzingerin, die
ich schon kenne, weil sie immer dreinredet u. Urwuchs markiert, erregte viel Heiter-
keit durch ihre Heurigenkenntnis u. Bereitwilligkeit bei den Heurigen zu sammeln.
Gestern war ich beim Ehrlich die Zeichnungen etc. aussuchen, die er in d. Hagen-
bund schicken will. Frau Prof. Dvorak war gleichzeitig dort u. wirkte etwas lähmend.
Da die besten Blätter verkauft sind, war die Wahl sehr schwer. Die eine Zeichnung
von Mizzi Berl war besonders gut
– meiner Meinung nach sogar ausreichend, daß er
sie nicht mehr kommen lassen muß. Höchstens zur letzten Kontrolle. Ich riet ihm,
die Zeichnung auszustellen u. bei Berls hat niemand etwas dagegen, sofern es natür-
lich „ohne Namen“ geschieht
…147
Nachmittag führte ich bei Alma den Kiesler ein – der sie sehr geschickt behan-
delte. Sie abonnierte „G“, die neue Zeitschrift, die er redigieren soll (G = Gestaltung)
u. er bat sie, auch Mitarbeiterin zu werden. Frau Irene Hellmann (Redlich-Schwes-
ter, die stellenweise mit anwesend war) wirkte furchtbar retrospektiv. Werfel kam
auch und machte gute Witze, gemeinsam mit Hans, der mich abholen kam. Vortrag
von Behrens über Wechselwirkung der Künste, sehr durchgearbeitet, aber wenig klar
herausgebracht – das Interessante daran der alte Mann, der doch eine der stärksten
Potenzen war, und sich jetzt mit aller Verzweiflung Mühe gibt, mitzuhalten. Es war un-
geheuer voll und elend sauerstofflose Luft. Fannina, die neben uns saß, war wie auf Na-
deln, weil sie nachher mit uns zu der Eröffnung des kleinen Moskauer Künstlertheaters
gehen wollte und Behrens immer noch nicht aufhörte. Dieses Theater dann in der Rie-
mergasse war nicht viel anders als „der blaue Vogel“, harmlos, hübsch zum Anschauen
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien