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Tagebuch 1923
terer sehr glücklich mit der Zeichnung von Ehrlich, während Mama so verzweifelt
über die Lilis war, daß ich sie gegen ein Buch Alt-Wien umzutauschen versprach
(ebenso ein Fiasko das Porträt der Mizzi Berl beim Vater u. Verwandten). Mittag Frl.
Funke, die zu unserer Verzweiflung uns bis ½ 6 langweilte. Ich habe niemals noch so
sehr mein Nachmittagsschläfchen vermißt wie heute. Dann schnelle Präparation von
Frans Hals für die morgige Hallestunde da ich vormittag mit Berls in die Wiener
Porzellanfabrik fahre. Abends mit viel Erfolg ein von mir gezeichnetes Frage- u. Ant-
wortspiel mit d. Kindern gespielt u. ganz zum Schluß hat Hans d. Judenbuche zuende
gelesen. Wundervoll erzählt u. wundervoll im Rätsel stehen geblieben.
–161
Heinz ist heut mit halbtägiger Verspätung aus Breslau angekommen.
28.XII.
Gestern vormittag die neue Wiener Porzellanfabrik im Augarten mit viel Interesse
aber mit künstlerischem Mißvergnügen besichtigt (mit Ehepaar Berl u. Ilse). Dann
die Kleinplastikausstellung im Theseustempel, wo die Flügeltüren in d. Schnee hin-
aus offen bleiben mußten, da das Oberlicht durch seine dicke Schneedecke d. Raum
verfinstert hat. Endlich Kunsthist[orisches] Museum, den provisorischen Einbau des
17er Saales angeschaut ; vor allem Freude bei der bei dieser Gelegenheit von d. Wand
heruntergekommenen […] Madonna. Nachmittag Kurs bei Halles, Ehrlich holte
mich ab u. wir gingen zusammen durch die 10grädige Kälte, über d. knirschenden
Schnee zu Lampls. Ich erzählte ihm, daß ich ihn am Morgen, als er mich wegen des
Kinos, in das er mit mir gehen wollte (Raskolnikow !) antelephonierte, gehaßt habe,
wirklich gehaßt. Und er erzählte mir, daß er nach dem Weihnachtsabend bei uns, als
er nachhause kam, einen Kollaps gehabt hätte, so furchtbar habe ihn die Besche-
rung bedrückt u[nd] z[war] wenn er sich’s recht überlegte, weil der Spiegel auf einem
Stuhl gestanden war. (Er sah dauernd so betont geschenksmäßig aus). Wer von uns
beiden ist d. größere Narr ? ! Lampl las erst einen 1. Akt von einem modernen Faust-
drama vor (Schlaraffen), dann ein 4aktiges, mit Pro- u. Epilog versehenes Lustspiel à
la Sommernachtstraum, aber mit sehr gutem 3. und 4. Akt vor, endlich Gedichte. Es
dauerte weit über 3 Stunden. Es waren, wie immer, noch Verwandte da. Er dichtet
ganz anders wie ich u. das macht mir am meisten Spaß, weil ich doch immer glaube,
alle Menschen müssen gleich sein. Am Nachhauseweg war es noch kälter geworden.
Ich aber hatte Pelz u. Schneeschuhe u. fror nicht. Ehrlich wärmte seine Hände in
meinem Muff. Zuhause hatte Hans in der Bibliothek geheizt u. mein Nachtmahl
hergerichtet u. wir erzählten einander vom Tag und ich wollte gar nicht schlafen
gehen.162
29.XII.
Heute mit Anderl, Stoffel u. Heinz in Lampls Glasbläserei „Bimini“, wo uns der
Bläser ein Bouket blies, das mir Lampl in eine Vase steckte. Anderl bekam 2 Pin-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien